Wasichay – ein Zuhause bauen im Valle Sagrado

Als ich meinen ersten Blogbeitrag fertig geschrieben hatte, dachte ich mir ehrlich gesagt: „Worüber soll ich jetzt im zweiten Beitrag schreiben?“

Denn zum einen legt man mit der Zeit – ich nenne sie mal die „Brille des Neulings“ – ab, und das zuvor Fremde und Neue wird langsam zur Normalität. Zum anderen habe ich hier inzwischen einen festen Alltag mit Routinen und klaren Aufgaben zu bestimmten Zeiten. Also dachte ich, dass sich nicht viel verändern würde.

Aber ich bin selbst überrascht, wie anders die letzten Wochen waren und wie viel sich doch verändert hat.

In meinen ersten Wochen habe ich meinen Freunden und meiner Familie in Deutschland erzählt, ich hätte mich schon eingewöhnt. Und ich dachte, das hätte ich tatsächlich. Durch den strukturierten Alltag im Hogar wusste ich schnell, was meine Aufgaben sind, und fühlte mich schon nach kurzer Zeit als Teil der Gemeinschaft und der Arbeit. Aber nur weil ich weiß, was ich tun soll und mitarbeite, heißt das noch lange nicht, dass ich mich schon eingelebt habe. Auf Quechua gibt es ein Wort, das diesen Prozess des Einlebens gut beschreibt: Wasichay. Es bedeutet „ein Zuhause bauen“. Und tatsächlich ist es genau das, was man hier tut – man baut, Stein für Stein, Schritt für Schritt, bis irgendwann aus all dem ein Zuhause entsteht.

Wie sich Wasichay anfühlt, zeigt vielleicht am besten Baltas, der Hund des Hogars. Anfangs war er noch zurückhaltend, dann immer zutraulicher. Irgendwann lief er öfter mit den Mädchen und mir den Weg zur Schule. Nachdem er unterwegs aber seine „hundischen“ Straßenfreunde getroffen hatte, waren wir leider nur noch Nebensache. Mit der Zeit begleitete er uns immer ein Stück weiter – bis er letztens tatsächlich komplett mit zur Schule lief. Doch das war nicht alles: Nachdem ich die Mädchen absetze, gehe ich meist noch ins Gym, um etwas Sport zu treiben. Baltas folgte mir an dem Tag bis dorthin und machte die Übungen gefühlt mit. Er lief mir zu jeder Maschine hinterher, wartete treu, bis ich fertig war, und dann ging’s zur nächsten Übung. Nach etwa einer Stunde machten wir uns also dann gemeinsam auf den Rückweg ins Hogar.

Baltss mit im Gym

Auch wenn es sich in diesem Beispiel „nur“ um einen Hund handelt, veranschaulicht er doch gut, was mit der Zeit hier passiert: Anfangs schüchtern und zurückhaltend, aber mit der Zeit immer vertrauter und zutraulicher. Sinnbildlich steht Baltas irgendwie für mich. Bitte verwechselt hier nicht die Absicht – ich bin schließlich kein Hund, der sich mit Leckerlis und Streicheleinheiten gewinnen lässt. Aber auch ich war anfangs unsicher und habe jeden meiner Schritte mehrfach hinterfragt, bevor ich ihn gesetzt habe. Ein großer Teil dieser Unsicherheit war sicher die Sprache. Nach fast drei Monaten und Spanischunterricht klappt das nun deutlich besser. Ich merke, wie sich etwas in meinem Sicherheitsgefühl verändert und ich mich den schönen wie auch den schwierigen Momenten mit den Kindern viel besser zuwenden kann. Dadurch, dass die Angst, etwas falsch zu machen, nun kleiner geworden ist, lebe ich viel mehr im Moment statt in Gedankenschleifen. Die letzten Wochen habe ich dadurch unglaublich genossen: Witze, die ich mittlerweile verstehe, Geschichten, denen ich größtenteils folgen kann, meine erste Teamkonferenz, die Backschritte erklären,… All das klappt nun viel besser! Ich habe wahnsinnig viel Spaß mit den Kindern und darf sie Stück für Stück besser kennenlernen. Auch dabei hilft die Sprache – sei es, um Probleme gemeinsam zu lösen oder mehr über ihre Geschichte und Herkunft zu erfahren.

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Auch Urubamba ist mir inzwischen eine vertraute Umgebung geworden. Die Stadt liegt mitten im Valle Sagrado – dem Heiligen Tal der Inka. Zur Blütezeit der Inka befand sich hier das Zentrum ihres Reiches und seine Hauptstadt Cusco. Nach der spanischen Eroberung ab 1531 finden sich hier Spuren beider Kapitel der peruanischen Geschichte.

Mittlerweile hatte ich schon die Möglichkeit, etwas von diesem Heiligen Tal zu sehen. So war ich zum Beispiel in Städten wie Ollantaytambo und Cusco und durfte der reichen Kultur und tiefen Geschichte des Landes ein Stück näher kommen. Besonders Ollantaytambo hat mich tief beeindruckt, denn es ist die einzige Stadt mit noch erhaltener Stadtplanung aus der Inka-Zeit. Die Gassen, Gebäude und Inka-Terrassen Ollantaytambos befinden sich noch weitgehend im ursprünglichen Zustand. Es war ein irgendwie surreales Gefühl, sich vorzustellen, dass die Bewohner des Inkareichs vor Jahrhunderten über genau dieselben Steine gegangen sind.

Ollantaytambo:

Auch Cusco ist eine wunderschöne Stadt, erinnert im Vergleich dazu jedoch stark an die Kolonialherrschaft der Spanier. Trotz ihrer Schönheit berührt es mich zu wissen, dass hier zuvor wahrscheinlich eine Stadt stand, die Ollantaytambo ähnelte – und dass all das durch die Bauten der Spanier ersetzt wurde. Schon bei der Suche nach Museen in Cusco merkt man den Unterschied: Die meisten zeigen Exponate aus der spanischen Kolonialzeit, während Ausstellungen zur Inkazeit oder zu indigenen Kulturen seltener sind.

Cusco:

Dabei liegt es mir besonders am Herzen, dieser ursprünglichen Kultur Perus zu begegnen – auch weil sie mit der Geschichte vieler Kinder im Hogar verbunden ist und Teil ihrer Herkunft bleibt. So sprechen beispielsweise alle Kinder zuhause Quechua, die Sprache des Inkareichs – ihr erinnert euch vielleicht an Wasichay vom Anfang.

Spanisch ist dagegen die Sprache für ihr Leben im Hogar und in der Schule. Besonders in meinen ersten Wochen fragten mich die Kinder oft, wann ich denn Quechua lernen würde. Ich erklärte dann, dass ich erst Spanisch lernen wolle – und dass es vielleicht später noch Zeit gäbe, ein paar Sätze Quechua zu lernen. Als mich ein Mädchen das erste Mal fragte, war ich überrascht und musste etwas verlegen lachen, weil ich zuvor gar nicht daran gedacht hatte, auch Quechua zu lernen. Die Frage war so selbstverständlich gestellt – und erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wie nah diese Sprache eigentlich an ihrem Leben und an ihrer Kultur ist. Es hat mich berührt, und ich dachte: Eigentlich wäre das wirklich schön.

Ich bin selbst zweisprachig aufgewachsen: Polnisch war meine erste Sprache – die Sprache zuhause und in der Familie. Deutsch dagegen habe ich erst im Kindergarten gelernt und außerhalb des Zuhauses gesprochen. Nicht nur die Sprachen unterscheiden sich voneinander, sondern auch das, was sie in mir auslösen. Wenn ich Polnisch höre oder spreche, ist da sofort etwas Vertrautes – etwas, das sich nach Zuhause anfühlt.

Ich kann mir also gut vorstellen, dass auch die Kinder mit Quechua etwas Familiäres verbinden. Wenn sie manchmal miteinander Quechua sprechen, sitze ich einfach da und höre zu. Es ist wirklich eine völlig andere Sprache als Spanisch, aber man spürt, wie sehr sich die Kinder verbunden fühlen, weil sie sich in beiden Sprachen verständigen können. Fehlt ihnen mal ein Wort auf Spanisch, sagen sie es einfach auf Quechua – und alle verstehen es. Alle außer mir natürlich. Aber wie schön wäre es, ihnen – und auch Peru – durch diese Sprache ein Stück näher zu kommen.

Bis jetzt bin ich aber sehr glücklich, dass es wenigstens mit Spanisch vorangeht und ich mich darauf schon gut mit ihnen unterhalten und verständigen kann.

Vielleicht werde ich in den kommenden Monaten ja doch noch das ein oder andere Wort Quechua aufschnappen – wer weiß. So wie sich hier vieles ganz natürlich entwickelt hat, geschieht vielleicht auch das mit der Zeit. Mit Wasichay habe ich immerhin schon eins! Je mehr ich die Sprache und die Menschen um mich herum verstehe, desto stärker spüre ich, wie eng hier alles miteinander verbunden ist: Sprache, Kultur, Landschaft. Und vielleicht ist es genau das, was dieses Land so besonders macht – und ihm seinen Namen gegeben hat. Denn dieses Tal, das Valle Sagrado, trägt seinen Namen wirklich zu Recht. Es hat etwas Heiliges, Andächtiges an sich – durch seine Vergangenheit, seine Schönheit und seine Lage inmitten der Anden.

Oft steigt in mir eine tiefe Ruhe und Verbundenheit auf, wenn ich auf dem Hauptplatz Urubambas stehe und zu den umliegenden Bergspitzen blicke. Manchmal drehe ich mich langsam im Kreis, einfach um diesen Ausblick und Moment zu genießen und festzuhalten – als wollte ich ihn einatmen und bewahren.

Dieses Gefühl begleitet mich auch, wenn ich von unterwegs zurück nach Urubamba komme. Der Weg von Cusco führt durch die gewaltigen Berge, und nach einigen Kurven öffnet sich plötzlich der Blick auf Urubamba. Jedes Mal, wenn ich dann die Stadt von oben sehe, kommt in mir dieses vertraute Gefühl auf – ein kleines: „Ich bin zuhause.“ Vielleicht war genau das der Moment, in dem ich gemerkt habe: Ich habe mich nicht nur eingewöhnt – ich habe mich eingelebt. Mein Wasichay wächst langsam, Stein für Stein – noch fehlen viele, doch das Fundament steht und mit der Zeit wird es immer größer.

Der Blick auf Urubamba

Nun hatte ich ja doch genug zu berichten und konnte euch auch eine kleine Geschichts- und Quechua-Stunde geben. Ich hoffe, ihr hattet Freude daran, mehr zu erfahren!

Bis bald – oder: Tupananchiskama*,

eure Maja

* Tupananchiskama [tupanantschiskáma] – Quechua: „Bis wir uns wiedersehen“ (wörtl. „Bis wir uns treffen“)