Schaum statt Kamelle
Es wird langsam sonniger in Quito. Ich sitze, wie so oft, im Bus von Tierra Nueva und kneife die Augen zusammen, während ich aus dem Fenster blicke. Überall hängen noch, mittlerweile oft zerrissene, Wahlplakate. Gerade erzählte mir Millie, eine der Schülerinnen des Zentrums, von ihrem bewegten Morgen – es überrascht mich immer wieder, dass man um sieben Uhr morgens schon so viel Gesprächsstoff erlebt haben kann. Mittlerweile steigen (vor allem) Mati und Millie, wenn sie mich dann sehen, mit einem energiegeladenen „Gretaaa!“ in den Bus ein, über das ich mich jeden Morgen aufs Neue freue.
Verlässt der Bus schließlich Quito, um sich Richtung Südosten in den Vorort Amaguaña aufzumachen, bietet sich ein beeindruckender Blick auf die Anden und – bei klarem Wetter – auch auf die Vulkane, die Quito im Panorama beinahe einkreisen.
Da sind zum Beispiel Cotopaxi oder auch der Cayambe. Mit Wolken behangen, gestaltet sich deren Identifizierung jedoch auch schwierig. Ich bezweifle, dass ich mich jemals an diesen Ausblicken sattsehen werde. Wir schlängeln uns durch kurvige Straßen neben eng bebauten Wohnvierteln, kommt ein anderer Bus entgegen, endet das jedes Mal in einer kleinen Puzzelaufgabe, wobei überraschenderweise immer schnell eine Lösung für das Platzproblem gefunden wird. Sind alle Kinder und Jugendlichen schließlich an ihren Haltestellen abgeholt worden, kommen wir nach eineinhalb Stunden im Zentrum an.
Man könnte sich vorstellen, diese eineinhalb Stunden fühlen sich lang oder ermüdend an. Das Gegenteil ist der Fall, denn im Bus geht mein Tag bereits los – es gilt, die Augen überall zu haben: ob Anschnallgurt, der Rucksack an seinem zugewiesenen Verstauort oder anderes. Es gibt einige Regeln, deren Einhaltung an manchen Morgenden eine Herausforderung darstellt.
Angekommen heißt es für die rund 50 Schülerinnen und Schüler: aus den drei Bussen aussteigen und ab in die einzelnen Aulas – also Klassenräume. Ich begleite fünf Jungs aus der Aula Margarita auf ihrem Fußweg.
Amaguaña besteht mittlerweile aus zwölf (ursprünglich acht) jeweils gegenüberliegenden Hütten. Fünf bilden die einzelnen Aulas, eine das Büro, eine andere den Essensaal. Schließlich findet sich noch eine Kapelle, ein Bällebad sowie ein Sportraum mit Laufbändern und allerlei weiterem Material. Die drei verbleibenden Häuschen bilden den Wohnraum für die Familie des Hausmeisters.
Nun aber zurück zur Aula Margarita, in der ich weiterhin einen großen Teil meines Alltags verbringe.
Nach dem Händewaschen führt Evelyn die Morgenreflexion durch.
Diese – die mittlerweile nicht selten auch unter meinen Aufgabenbereich fällt – besteht zunächst aus dem lauten Wiederholen des Wochentags. Jeder Tag von Montag bis Freitag hat hier seine eigene Handbewegung, die mal mehr, mal weniger erfolgreich von den Kindern erkannt wird. Danach folgt die Frage „Wie fühlt ihr euch heute?“ Dafür darf jedes Kind einzeln aufstehen und einen Smiley in einer der verschiedenen Emotionen aussuchen. Kurz wird das heutige Wetter bemerkt und ausgewertet. Schließlich gibt es verschiedene Themen, die angesprochen werden. So wird zum Beispiel das richtige Händewaschen neu thematisiert oder auch ernstere Aspekte wie der Umgang mit Übergriffigkeit durch andere Kinder/Personen oder die allgemeine Sensibilisierung für diesen Bereich. Beendet wird jeder Morgen mit einem (oder auch mehreren) Lied(ern) und dem passenden „Tanz“.
So wie auch gut die Hälfte der Kinder, beherrsche auch ich nun bald zuverlässig den Text sowie die zugehörigen Tanzbewegungen der verschiedenen Kinderlieder.




Nach der Reflexion heißt es: In einer Reihe aufstellen und im Gänsemarsch zum „Comedor“, also dem Essenssaal. Dort wird gefrühstückt – jedes Kind hat die Aufgabe, sein eigenes Gedeck aus dem Regal zu holen und dieses nach dem Essen abzuwischen, abzuspülen und aufzuräumen. Sind alle Lappen und Handtücher an ihrem zugewiesenen Ort, geht es im gleichen Gänsemarsch zurück zum „Klassenraum“. Dort findet je nach Wochentag eine andere Aktivität statt. Jeden Dienstag zum Beispiel geht es für die Schülerinnen und Schüler in aufeinanderfolgenden Zweiergruppen zur „Hidroterapia“. Das Zentrum besitzt neben dem bereits erwähnten Sportraum und einem Pferd auch ein kleines – zum Glück warmes – Wasserbecken.
Die Betreuung der kleinen Physiotherapie-Einheit (zumindest der Teil außerhalb des Wassers) liegt auch in meinem Aufgabenbereich. Sind die Kinder im Wasser angekommen, werden mit dem im Zentrum arbeitenden Physiotherapeuten verschiedene motorische Übungen durchgeführt.
Nach der Sporteinheit geht es beispielsweise mit Aufgaben in den Heften weiter – diese bestehen aus Übungen wie Linsen auf eine vorgezeichnete Nummer Eins zu kleben oder genau eine Nudel in einen Kreis zu kleben. Die zentralen Themen sind Nummern, Primärfarben und Vokale, die repetitiv eingeübt werden. Danach wird oft gebastelt, bis es zum Mittagessen geht. Nach selbigem werden die Zähne geputzt. Falls es nicht regnet, geht es auf den Spielplatz. Pünktlich zur Schlussreflexion finden sich alle wieder im Stuhlkreis ein.




Trotz Stundenplan ist jeder Tag im Centro anders. Mir fällt vor allem auf, wie sehr das Verhalten der Kinder sich von Tag zu Tag unterscheiden kann. Das führt bei mir zu einem großem Wertschätzen der Arbeitsfortschritte der Kinder.
Zusätzlich finden sich für mich unzählige Kreativarbeiten. Von Türschildern für die verschiedenen Aulen, der Fertigstellung der Mutter- und Vatertagsgeschenke, den Wandel von alten Teppichen zu Barfußpfaden für sensorische Stimulation bis hin zu ganzen Bäumen aus Pappe als Wandschmuck: Es gibt genug Bedarf und Ideen.
Mein Alltag in der Einsatzstelle findet also – bis auf Teile der Busfahrt – außerhalb Quitos statt, wobei ich in Amaguaña ausschließlich das Zentrum kenne, während mir in Ecuadors Hauptstadt mittlerweile zahlreiche Ecken bekannt sind.
Während mir also Quito mittlerweile nur noch selten den Atem raubt, denn auch ich habe mich wohl langsam an die Höhe gewöhnt, hat die Stadt mittlerweile eine andere Stimmung auf mich.
Während der April von den Präsidentschafts-Stichwahlen, stundenlangem Regen, grauem Himmel und Kälte geprägt war und dadurch einen frustrierten, angespannten Eindruck auf mich machte, ist es mittlerweile sonnig, etwas wärmer und alles fühlt sich ein kleines Bisschen entspannter an.
Ein Highlight der letzten Monate war für mich Karneval. Diese Feierlichkeit wurde schon in den Tagen und Wochen davor mit folgender Frage thematisiert: „¿Vas a jugar Carnaval? ¿Con quién y dónde vas a jugar?“ (Direkte Übersetzung ins Deutsche: „Wirst du Karneval spielen? Mit wem und wo wirst du spielen?“)
Mich verwirrte der Gebrauch des Wortes spielen, darunter konnte ich mir bis zum eigentlichen Fest nichts vorstellen.
Am Tag vor der Karnevalsfeier im Centro hieß es, ich solle morgen eine „Carioca“ mitbringen. Das ist eine Sprühflasche, die mit einer Art Seife gefüllt ist. Diese Seife wird wie Rasierschaum aufgeschäumt, tritt aber mit viel mehr Druck aus und kann bis zu fünf Meter weit „geschossen“ werden.
Aber nicht nur diesen Seifenschaum gibt es – Wasserbomben, Eimer mit kaltem Wasser oder Plastiktüten, die mit Farbpulver gefüllt sind, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Ziel ist es, möglichst trocken zu bleiben, während die „Spielgegner“ möglichst eingeseift, durchnässt und mit Farbe im Gesicht zurückbleiben.
Nach dem ganzen Tag mit den Kindern, Karneval spielend, war mir die Verwendung des Wortes „spielen“ einleuchtend. Das Wochenende sowie die beiden Feiertage verbrachte ich mit einer Freundin in Ambato und Cuenca. Ambato ist für den Karnevalsumzug und für weitere Feierlichkeiten wie Musikeinlagen, Märkte und das Karneval-Spiel bekannt. Cuenca ist eine beliebte Stadt Ecuadors, die neben der kolonialen Architektur vor allem für ihre entspannte, sichere Atmosphäre bekannt ist. Eine wichtige Rolle spielt auch die Handwerkskunst. Ob Körber oder die berühmten Panama-Hüte: In Cuenca reiht sich ein Stand mit kunstvoll geflochtenen Werken an den anderen.






Die halbe Zeit des verlängerten Wochenendes verbrachte ich durchnässt und voller Seifenschaum und Farbe. Die 15 bis 18 Grad Außen- und damit ebenso Innentemperatur in der Sierra Ecuadors führten dazu, dass sich die Anwesenheit der Kinder im Centro in der Woche nach Karneval wegen Erkältungen auf ungefähr 30 % beschränkte.
Lässt man die Menge an Müll, die durch die leergesprühten Aluminiumbehälter und Plastiktüten anfällt, außen vor, werde ich diese spielerische Art, Karneval zu feiern, in Deutschland auf jeden Fall vermissen.
Nachdem alle die Feiertage und die Rekuperationsphase von diversen Erkältungen überstanden hatten, ging der Alltag im Centro weiter.
Dieser verfliegt weiterhin, ich habe alle Kinder mittlerweile wirklich tief in mein Herz geschlossen und freue mich jeden Tag aufs neue wenn der Bus in den Parkplatz einrollt und zum Stehen kommt. Da nehme ich dann auch gerne in Kauf mir bereits auf der Rückfahrt Heißkleberreste und Glitzerpartikel aus den Haaren zu pflücken. Und genau deswegen verabschiede ich mich schon wieder in genau diesen Alltag – bis bald!