Neblina
Die Nächte auf der anderen Erdhalbkugel werden zunehmend kälter. Fast schon etwas winterlich. Über neun Monate bin ich schon hier, hier in Peru. Verrückt. Dabei fühlt es sich gar nicht so an. Wenn ich zurücksehe, habe ich in meinen letzten Geschichten oft über die rasend vergehende Zeit geschrieben. Ja, sie rast. Wortwörtlich. Und je mehr Zeit vergeht, umso nebliger wird es um mein Bewusstsein, dass ich bald Abschied nehmen muss. Wäre dieses Gefühl ein Geschmack, dann bittersüß.
Viel ist passiert in diesen letzten Wochen. Um die letzten Erlebnisse Revue passieren zu lassen, musste ich erstmal ein wenig in meiner Fotomediathek wühlen. Da war das 20-jährige Jubiläum von MICANTO. Eine große Feier mit Piñatas, viel Kuchen, einem bunten Meer an Dekoration und strahlenden Gesichtern. Der Día del Trabajo, mit großem Umzug durchs Viertel. Viele Ausflüge in neue Gegenden, Besuche, neues Essen, neue Gerüche. Hier mal ein paar Eindrücke:






















































Heute berichte ich frei Kopf und Bauch. Vielleicht ein wenig ohne Struktur, ohne Erzählen von großen Erlebnissen. Aber offen und ehrlich, einfach frei heraus.
Dieses Jahr ist eine Reise. Nicht Urlaub. Nicht so eine im klassischen Sinn mit Sommer Sonne Strand und nach Hause fahren. Diese hier ist eine, die viel tiefer geht. Eine sehr persönliche, eine Art Lebensreise. Immer wieder merke ich, dass dieses Jahr nicht nur Eintauchen bedeutet. Es wandelt sich mehr und mehr zu einem immer tieferen Tauchgang. Vorher wusste ich nicht, was diese Zeit mich fühlen lässt. Freude, Stolz, Begeisterung, Liebe. Liebe für Menschen, für die Art und Weise, für kleine Momente, fürs Quatschmachen mit Kindern. Im selben Moment Unsicherheit, Verzweiflung und Sorge. Die Sorge vor Abschied nehmen, vor Verlieren, vor Vergessen.
Als ich angefangen habe diesen Text zu schreiben, hat das Wetter verrückt gespielt. Regen und Sturm, aus allen Himmelsrichtungen. Überlaufende Dachrinnen, aufprallendes Wasser in all seinen Stärken und Lauten. Idyllisch und zugleich auch überwältigend. Ein Stück weit stellvertretend für mein aktuelles Ich. Ich saß mit flackernder Kerze auf meinem panzerbandgefixten Holzstuhl. Auch jetzt wieder. Drei vier Sterne sind am Nachthimmel zu sehen, das Zwitschern von Grillen im Hintergrund. Ich spüre irgendwas zwischen Glücksgefühl und Nachdenklichkeit in meinem Kopf.
Neulich waren meine Eltern zu Besuch bei mir, hier, in Cajamarca. Elftausend Kilometer von Deutschland entfernt, sieben Stunden Zeitunterschied. Da waren sie nun, einmal um die halbe Welt geflogen, stiegen aus dem Flieger. Voller Freude auf das lang ersehnte Wiedersehen. Ein wunderschöner Besuch voller besonderer Momente. Jedoch für alle, die mit dem Gedanken einer Andenreise spielen: die Höhe sollte man nicht unterschätzen. Viel viel Coca-Tee schafft aber Abhilfe.
Es war schön, meine Eltern wieder zu sehen. Schon oft hatte ich ihnen von meinen Erlebnissen hier erzählt. Ihnen aber mir bekannte Ecken, Orte und mein Leben in Echt zu zeigen, das war dann doch etwas ganz anderes. Gemeinsam waren wir in meiner Einsatzstelle, haben uns dann nach ein paar Tagen Höhengewöhnung auf Reisen nach Süd- und Nordperu gemacht. Angefangen in Cusco, nach Aguas Calientes und auf den Machu Picchu. Ein ganz besonderes Erlebnis für meinen Stiefpapa, der sich diesen Besuch seit sechzig Jahren von tiefem Herzen gewünscht hat. Da standen wir in den historischen Inka-Ruinen, Freudentränen inklusive. Wirklich ein ganz besonderer Moment.
Weiter in den Regenwald nach Tarapoto, ein wenig entspannen, viel reden und dem durchweg plappernden Papagei neue Worte entlocken. Ein ebenso wunderschöner Ort dieses Landes, den meine Eltern nun durch ihre Augen sehen konnten. Die Moto-Fahrt zu den Wasserfällen im tiefen Regenwald durfte nicht fehlen. Mit Wiedersehen meines bekannten Fahrers José, den ich auf meinem letzten Besuch kennengelernt habe.










































Nach zwei Wochen machten sich meine Eltern dann mit vollgepacktem Souvenirbeutel zurück auf den Weg nach Deutschland. Viele schöne, gemeinsame Erinnerungen haben wir in diesen Tagen gesammelt. Und dann hieß es Abschied nehmen, auf ein absehbares Wiedersehen.
Ein gemischtes Gefühl. Deutschland und Peru haben sich für mich in dieser Zeit noch mehr verbunden. Gleichzeitig überkam mich das Gefühl, in keinem dieser beiden Länder wirklich zuhause zu sein. Ein Gefühl wie ein Vogel auf die Welt zu blicken, und sich mit je einer Hälfte hier wie dort heimisch zu fühlen.
Mich beeindruckt es immer wieder hier zu leben. Wenn auch nur auf Zeit und mit festem Rückflugdatum, all das hier ist irgendwie besonders. Besonderer und tiefer, als ich es mir vorgestellt habe. Diese Zeit neigt sich langsam dem Ende zu, das weiß ich. Meine Mitfreiwillige, Antonia, schrieb so schön: »Und mehr, als ich mir eingestehen will, habe ich Angst. Angst vor dem Vergessen. Deshalb schreibe ich.«
Außerdem schrieb sie: »Ich glaube, ich habe mich verliebt.«
Ich glaube, das habe ich auch. Verliebt in ein Land, dessen Menschen, dessen Form und Bild vom Leben. Aber vor alledem verliebt in das Gefühl, das ich hier spüre. Klingt vielleicht etwas theatralisch. Manchmal ist es aber wohl das, was einem ungefiltert aufs Blatt fällt. Wie es wohl weitergeht? Ehrlicherweise, ich weiß es nicht. Noch sitze ich aber hier auf meinem Stuhl, meine Kerze flackert weiter lichterloh. Und wenn sie mal ausgeht, dann zünde ich sie halt wieder an.

Lieber Michel,
Deine Worte haben mich tief beeindruckt. Spiegeln sie doch genau das wieder , was ich selbst jahrelang so empfunden habe. Ich kann Dir aber gute Hoffnung machen. Nach mehreren Jahren voller Zerrissenheit und Melancholie ist es irgendwie passiert, dass ich beide Welten gefühlt in mir vereinen konnte. Die Zerrissenheit und Melancholie ist einer Harmonie gewichen. Ich denke durch mehrere „Reisen“ und Gegenbesuche und das dadurch entstandene Verbinden von lieben Menschen ist meine persönliche Welt nun zu nur einer Welt geworden.
Ich wünsche Dir ein gutes wieder „nach Hause“ kommen. Im alten Zuhause. Es ist eine Herausforderung sich wieder an die „Alte Welt“ zu gewöhnen. Es wird Dich vieles aus unserer Kultur und Lebensstil hinterfragen lassen. Es wird Dir ein wenig fremd sein. Aber es ist unglaublich nun in dem Bewußtsein zu leben, dass man in einer Welt zwei Zuhause hat. (Denn Zuhause ist da, wo Freunde und liebe Menschen sind.) Dass sich der Horizont in jeder Hinsicht geweitet hat. Das man erkannt hat, dass es viele Möglichkeiten gibt, die uns geschenkte Lebenszeit zu verbringen und wenn man das gesundheitliche und finanzielle Glück hat, diese sogar gestalten zu können. Die meisten Menschen auf dem Globus haben dies nicht. Seien wir dankbar und vergessen wir die anderen nicht.
Herzlichen Dank Dir dafür !
Muchos saludos cordiales
Liborius