Mein erster Monat in der Stadt des ewigen Frühlings
Am 06.09.22 startete mein Flug von Frankfurt nach Bogota. Die Reise gestaltete sich leider schwieriger als geplant, da ich aufgrund der dreistündigen Verspätung des Fluges sowohl meinen Anschlussflug nach Medellin als auch dessen am selben Tag noch mögliche Alternative verpasste. So musste ich meine erste Nacht in Kolumbien am Flughafen von Bogota verbringen. Als ich am folgenden Tag in Medellin ankam und von meiner Mitbewohnerin und Arbeitskollegin Sandra abgeholt wurde, waren die Strapazen der Anreise jedoch schon vergessen. Der Weg vom Flughafen zu unsere Wohnung führte lange am Hang eines Berges entlang, (von denen es hier sehr viele, sehr steile gibt) was mir einen wunderschönen Blick auf die noch im Nebel liegende, unfassbar große Stadt bot, die für das nächste Jahr mein zuhause sein wird.
Angekommen ging es durch ein bewachtes Gate zu mehreren hohen Wohnblocks, die durch schmale Fußwege zwischen Bäumen, Palmen und Bananenpflanzen verbunden sind. Im Zentrum der Wohnanlage gibt es zudem einen großen Park, viele Parkplätze, einen Spielplatz, verschiedene Sportgeräte und viele Läden wie beispielsweise einen Frisör, einen Supermarkt und eine Bäckerei. Das sind deutlich mehr Läden als in meinem Dorf in Deutschland…und das nur für die Menschen die in der Wohnanlage wohnen!
Den ersten Tag verbrachte ich nur im Bett. Trotzdem sollte es noch eine ganze Weile dauern, bis ich meinen Wach-Schlaf-Rhythmus vollständig an die siebenstündige Zeitverschiebung anpassen konnte. In den folgenden Tagen musste ich mich erst einmal akklimatisieren und bürokratischen Hürden bewältigen, bei denen mir Sandra und ihre Freundin Carmen, welche für eine Woche aus Santa Marca zu Besuch war, eine große Hilfe waren. Die Wohnung teile ich mir zudem noch mit Sandras zwei Katzen „Venus“ (welche meiner Katze in Deutschland erstaunlich ähnlich sieht) und „Noche”.
Dann lernte ich meine Kolleginnen und mein Projekt „Red Feminista Antimilitarista“ kennen, was eine deutlich komplexere Aufgabe war, als ich dachte. Ich versuche euch „kurz“ die verschiedenen Stränge meines Projekts zu beschreiben :
Der erste Strang ist die Information und Aufklärung zu den Themen Feminismus, Antimilitarisierung, Rassismus und Kapitalismus. Das erfolgt beispielsweise durch die Vorstellung des Projekts und dessen Arbeit für Studentengruppen oder bei mittwochabendlichen Diskussionsrunden zu dem Thema Sexualität mit allen, die der öffentlichen Einladung folgen, sowie vielen weiteren Aktionen.
Darunter fällt auch die Planung und Durchführung von politischen Kampagnen zur Aufdeckung sozialer und politischer Missstände, beispielsweise durch Demonstrationen.
Der zweite Strang ist die Bewusstseinsbildung und akademische Unterstützung von Mädchen. Es gibt einen Rap-Chor, Kleingruppen, die über altersgerechte Themen wie Liebe oder Sexualität reden, eine Theater-und Bastelklasse und seit neustem donnerstags und samstags zwei von mir unterrichtete Englischklassen. Das hat den schönen Nebeneffekt, dass auch ich durch ein Kleidungsstück-Memory lerne was Socke auf spanisch heißt. Als ich die Mädchen zudem einmal fragte, welche Kleidungsstücke man denn so für die kalten Jahreszeiten brauche, lachten sie und sagten: „Nika, hier gibt es keinen Winter!”
Das „Observatorio Feminicidos Colombia“ (= „Beobachtungsstelle für Feminizide in Kolumbien“) ist ein weiterer Bestandteil der Arbeit des Projekts.
Die fünf leitenden Frauen der Beobachtungsstelle betreiben investigativen Journalismus zur Dokumentation und Analyse von Feminiziden und Tötungen an Trans-Frauen in Medellin und ganz Kolumbien. Ihre Arbeit veröffentlichen sie auf ihrer Internetseite (http://www.observatoriofeminicidioscolombia.org/) und in diversen Artikeln oder Büchern wie beispielsweise „Paaren la Guerra contra las mujeres“ (= „Stoppt den Krieg gegen Frauen”).
Um eine breitere Masse an Menschen zu erreichen, übersetze ich verschiedene dieser Artikel ins englische, wobei ich oft die verwendeten Fachbegriffe auf deutsch erst einmal googeln muss, um sie ganz zu verstehen.
Zu ihrem Aufgabenbereich gehört zudem der regelmäßige Austausch sowie die Organisation von Anwälten und einem „Círculo de Protection“ für 14 Frauen, welche momentan gefährdet sind Opfer von Feminiziden durch ihr Ex-Partner, Freunde oder Ehemänner zu werden. Der „Circulo de Protection“ bedeutet auf deutsch „schützender Kreis“ und besteht aus Freundinnen, Bekannten oder Nachbarn der gefährdeten Frau. Diese sollen Vorfälle beobachten und melden und bei einem ernsthaften Zwischenfall direkt vor Ort sein.
Zuletzt gibt es noch die Verwaltung und die sogenannte „Economica Feminista” (die finanzielle Unabhängigkeit des Projekts). Diese besteht vor allem aus dem „Café Ruda“, welches das Café der Organisation in der Innenstadt Medellins ist. Hier arbeite ich zweimal die Woche als Bedienung. Jedoch verbringe ich sehr viel mehr Zeit dort, da es zusätzlich ein Arbeitsplatz und Treffpunkt für meine Arbeitskolleginnen und mich ist.
Vielleicht ist euch aufgefallen, dass ich die ganze Zeit von „Feminiziden“ und nicht „Femiziden“ spreche. Diesen Unterschied möchte ich euch kurz erläutern, da er wichtig für den Kontext meiner Arbeit ist:
Femizid beschreibt die Tötung einer Frau durch einen Mann, da sie eine Frau ist. Gründe dafür sind oftmals Hass, Verachtung, Eifersucht oder der Anspruch eine Frau zu besitzen. Viele Lateinamerikanische Feministinnen fordern jedoch in der Analyse von Frauenmorden die vorherrschenden Machtstrukturen und die (Mit-) Verantwortung des Staates zu berücksichtigen. Denn männliche Dominanz und machistische Strukturen sind oft gesellschaftlich so stark akzeptiert, dass Täter nicht selten ungestraft davonkommen. Dafür steht das “ni” in dem Wort Feminizid.
Neben meiner Arbeit sind das Joggen in einem Stadion, welches eher an ein Sportcampus erinnert, das Probieren von lokalen Früchten wie Papaya, die in den ersten Tagen zu meinem Hauptnahrungsmittel wurde, die turbulenten Busfahrten zur Arbeit, welche aufgrund der sehr bergigen Landschaft Medellins und freien Interpretation des Tempolimits eher an Achterbahnfahrten erinnern und der Blick auf die an den Berghängen liegenden Stadtteile, dessen Lichter die Stadt nachts wie ein Ringnetz aus Sterne umgeben, weitere Highlights.
“Lowlights” begleiten mich jedoch auch. Vor allem die Sprachbarriere spielt dabei eine große Rolle. Dazu kommt, dass ich erstmals selbstständig wohne und lernen muss, mit der Leere, welche ein Familienleben normalerweise füllt, umzugehen.
Die 17 Frauen (+ich), welche in dem Projekt arbeiten, sind jedoch mehr als Arbeitskolleginnen, weshalb wir gelegentlich abends zusammen im Café (…das abends zur Bar wird) sitzen, ins Kino gehen, Geburtstage und Feste feiern oder an einem Sonntag in das etwas außerhalb liegende, wunderschöne Barbosa fahren, was mir diese Umstellung erleichtert.
Ich hoffe ihr konntet mit meinem ersten Blog-Eintrag einen Einblick in die aufregende Anfangszeit und das besondere Projekt hier in Medellin bekommen und freue mich schon, euch in kommenden Wochen einen neuen Zwischenstand durchzugeben.
¡Hasta Luego!
Nika