Es ist nicht immer alles so, wie es scheint – Zwischen Traum und Realität

Fangen wir mit dem besten Tag meines Lebens an:
Am 08.10.2023 feierte ich meinen 23. Geburtstag mit ca. 40 Gästen. Die Vorbereitungen für meinen Geburtstag begannen schon einen Monat zuvor: es musste ein schickes Kleid, Dekoration und vieles mehr gekauft werden. So ging ich öfter in die Stadt, um verschiedenste Dinge zu besorgen. Am Freitag, 06.10 wurden fleißig Fanta Muffins gebacken, wobei mein Gastbruder und ich eine Stunde versucht haben den „Ofen“ an zubekommen.

Am 07.10. war es dann so weit, um 21:00 Uhr sollten alle Gäste kommen. Es wurde den ganzen Tag gekocht, Nachtische vorbereitet und der Saal geschmückt. Schließlich war ich beim Friseur, um mir eine schicke Frisur machen zu lassen.
Was glaubst du, kamen die Gäste um 21.00 Uhr? Ein paar schon, zum Beispiel die Nachbarn/Familie, aber die restlichen Gäste kamen erst eine oder zwei Stunden später, so sind die PeruanerInnen…
Nachdem wir gegessen und getanzt haben, gab es um 24:00 Uhr ein Ständchen, zunächst von meinem Gastvater und dann von allen. Schließlich folgten die Reden, ja richtig gehört, an allen Geburtstagen und Fiestas werden Reden abgehalten. So musste ich eine kleine Rede halten, dann folgte meine Gastmutter und mein Gastvater. An dieser Stelle wurde es auch sehr emotional, denn ich schätze meine Gasteltern sehr. Ich bin unfassbar dankbar für meine Gastfamilie. Meine Gasteltern oder eher gesagt meine zweite Mutter und mein zweiter Vater haben mich wirklich sehr ins Herz geschlossen und schätzen mich auch sehr. So wurden viele unfassbar schöne Wörter ausgetauscht. Auch die ein oder andere Träne floss und es gab viele Umarmungen. Es folgten die Reden von Dianira (Chefin von MICANTO) und Chanita (meine Mentorin in MICANTO). Auch an diesen Stellen wurde es sehr emotional… Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt gerade mal einen Monat und ein paar Tage in MICANTO war, habe ich eine sehr enge Verbindung zum MICANTO-Team aufgebaut und fühle mich wie zu Hause.
An dieser Stelle möchte ich meiner Gastfamilie, meinen Gasteltern und auch meinen Gastgeschwistern, sowie dem MICANTO-Team danken, die mich nun zwei Monate begleitet haben und mit mir auch meinen Geburtstag vorbereitet haben. Ich habe hier nicht nur ein weiteres Zuhause gefunden, sondern auch eine Familie, die mich liebt und immer für mich da ist. Es ist nicht selbstverständlich, eine fremde Person bei sich zu Hause aufzunehmen und diese als vollwertiges Familienmitglied anzusehen, dafür bin ich unendlich dankbar. Muchas gracias y un gran abrazo!

Aber so toll und schön meine Geburtstagsfeier auch war, so rosig ist die Realität hier in Peru, Cajamarca nicht. Ich habe sehr Glück mit meiner Gastfamilie und meinem zu Hause. Ich habe hier ein eigenes Zimmer mit einem neuen Bett und Schrank bekommen. Alle meine Gastgeschwister haben ein Zimmer, teilweise sogar mit Computer und Fernseher ausgestattet. Aber nur zwei Straßen weiter haben die Menschen kein fließendes Wasser, keinen Strom und müssen sich mit der ganzen Familie ein Zimmer teilen. Das „Haus“ ähnelt eher einer Hütte, mit Plastikplanen als Wände und Wellblech als Dach. Manche Kinder haben auch nicht die Möglichkeit zur Schule zu gehen, weil sie so weit außerhalb wohnen oder den ganzen Tag für die Familie arbeiten müssen. Aber in Wirklichkeit haben die Kinder ein Recht auf Bildung, aber woher sollen sie es wissen, wenn sie abgeschottet von der Gesellschaft leben. Je höher die Menschen hier leben, desto ärmer sind sie.

Ich möchte dir an dieser Stelle ein paar Kinder (Namen wurden ausgetauscht) vorstellen:
Tim und Lukas, Kinder, die mit zerfledderten Sachen auf der Straße arbeiten müssen. Sie putzen Schuhe, verkaufen Sachen oder arbeiten auf der Baustelle.
Maria, 9 Jahre alt und verkauft mit ihrer Mutter Fleischspieße auf der Straße bis tief in die Nacht.
Ein ganz wichtiger Punkt ist hier die Kinderarbeit. Es gibt hier zwei Arten von Kinderarbeit: schlechte Kinderarbeit vs. gute Kinderarbeit. Jetzt denkst du bestimmt, wie kann Kinderarbeit gut sein? Ja, hier gibt es auch eine gute Kinderarbeit. Kinderarbeit bedeutet hier, dass man die Familie unterstützen kann und die Kinder sind auch stolz drauf. Gute Kinderarbeit bedeutet, dass die Kinder morgens ganz normal zur Schule gehen und am Nachmittag, z.B. auf der Baustelle arbeiten. Dort arbeiten sie aber unter guten Bedingungen, das heißt, mit genügend Pausen, mit Sicherheitskleidungen und ein Anrecht auf gerechte Bezahlung. In dem Fall ist Kinderarbeit eine gute Sache, denn die Kinder können ihre Eltern somit unterstützen, werden aber nicht ausbeutet, sondern ihre Rechte werden akzeptiert. Möchtest Du mehr über Kinderarbeit erfahren? Dann schau Dir das Sternsinger-Magazin an: https://www.sternsinger.de/kinder/sternsinger-magazin/sternsinger-magazin-eine-welt-ohne-kinderarbeit/ (Was ich unglaublich finde, wenn ich mir die Artikel anschaue, dass dieselben Kinder immer noch in MICANTO sind und nun mit ihnen arbeiten darf. Das ist schon irgendwie crazy, oder?)

Lena, eine 11-Jährige, ungewollt schwanger geworden. Sie wird verstoßen, weil sie eine Schande für ihre Familie ist. Sie wird verspottet. Manchmal werden sogar die Mädchen zu Tode geschlagen. Wer hat die Schuld, dass sie ungewollt schwanger geworden ist? Das Mädchen, das ungewollt schwanger geworden ist, weil sie nicht weiß, wie sie sich vor Vergewaltigungen schützt/ Kann man sich überhaupt vor einer Vergewaltigung schützen? Hat sie die Schuld, wenn sie nicht aufgeklärt wird und nicht weiß, wie man verhütet? Es gibt keine Sexualkunde in der Schule und auch die Eltern sprechen nicht über das Thema. Hat sie die Schuld, wenn sie zu Hause geschlagen wird und nicht geliebt wird und deswegen auf der Straße nach Liebe und Geborgenheit sucht? Hat sie die Schuld, wenn sie vergebens nach Liebe sucht und deshalb an die falschen Leute gerät? Was würdest du machen, wenn dich deine Eltern nicht lieben würden und dich wie Abfall behandeln würden? Hat das Mädchen die Schuld, wenn sie von ihrem Vater vergewaltigt wird? Wer hat wirklich die Schuld?

Aus diesem Grund erarbeite ich gerade mit Florcita (Verantwortliche für den Bereich der Gesundheit in MICANTO) Materialien und Informationsgespräche für die Sexualkunde. Diese Präsentationen und Gespräche sind in allererster Linie für die Kinder und Jugendlichen gedacht, aber wir werden auch Informationsnachmittage für Eltern vorbereiten. Meiner Meinung nach sind Verhütung und der Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten die wichtigsten Themen. Auch wenn es hier ein absolutes Tabu-Thema ist, muss darüber gesprochen werden. Ansonsten wird sich nie etwas an der Situation ändern.

So sieht tatsächlich die Realität hier aus, kaum zu glauben, oder? Ich erzähle von wunderschönen, phänomenalen Partys, und zwei Straßen weiter haben die Menschen keinen Strom und kein Wasser… Kinder werden zu Hause missbraucht, geschlagen und vergewaltigt. Wie fühlt man sich da? Wie fühle ich mich, wenn ich im Projekt diesen Kindern begegne, die schlimme Schicksale erlebt haben? Wie fühlt man sich hier als einzige „gringa“ (Ausländerin)?
Nicht selten passiert es, dass mir hinterher gepfiffen wird. Mir wird gesagt, dass ich eine Prinzessin oder Königin wäre. Manchmal werde ich auf Englisch angesprochen oder wohl möglich angegafft. Auch nicht selten wird mir erzählt, wie schön ich wäre und alle Typen deswegen sich in mich verliebt hätten. Was mache ich da? Nun ja, eine wirkliche Antwort habe ich darauf nicht. Ich kann bis heute nicht abschätzen, ob jemand nur nett plaudern möchte, nett sein möchte oder mich anmachen möchte. Ob ich das noch herausfinde, keine Ahnung. Letztens war ich in der Stadt, um ein paar Besorgungen zu haben, da kam ein Mann zu mir und hat mich gefragt, ob wir heute Montag hätten. Und hat er mich schließlich gefragt, woher ich komme. Nachdem ich Deutschland gesagt habe, meinte der Mann zu mir, ob ich Geld hätte, weil er doch nichts sehen würde. (Ob er blind war, keine Ahnung…er hatte auf jeden Fall keinen Blindenstock) Plötzlich wollte er mir Kleingeld geben, weil ich ja kein Geld habe. Ich habe es aber dankend abgelehnt. Also du merkst schon, auch wenn die meisten Leute echt sehr freundlich, mich liebevoll aufnehmen und willkommen heißen passieren trotzdem echt komische Geschichten… Am schlimmsten finde ich die Hilflosigkeit, die ich teilweise den Kindern gegenüber habe. Was kann man dagegen machen, wenn die Eltern die Kinder schlagen? Hier kann ich nicht das Jugendamt oder die Polizei anrufen. Meinst Du Elterngespräche helfen? Was machst Du, wenn Du genau weißt, wenn dieses Mädchen MICANTO verlässt und die falschen Leute auf sie warten und sie mit diesen mitgeht? Was machst Du, wenn Du weißt, dass dieses Mädchen Gefahr läuft, schwanger zu werden, mit 11 Jahren? Was machst Du, wenn die Eltern sich keiner Schuld oder Verantwortung bewusst sind? Das sind Momente, wo ich echt an meine Grenzen komme. Denn genau niemand gibt Dir eine Antwort auf diese Fragen. Du versuchst es immer und immer wieder. Du versuchst der Mutter ins Gewissen zu reden, aber es klappt nicht. Du beschäftigst Dich im Projekt mit schwierigen und schlimmen Fällen, dann kommst Du nach Hause, Du findest ein Bett wieder. Du siehst Deinen Laptop, Deinen Kleiderschrank und Dein Geld. Für Dich ist es kein Problem in den nächsten kleinen Laden zu gehen und eine Flasche Wasser und Kekse zu kaufen. Du kannst duschen gehen, weil Du (warmes) Wasser hast. Du gehst in die Küche und es gibt essen.
Was sind Deine Probleme? Liebeskummer? Stress auf der Arbeit? Das Internet funktioniert 1 Stunde nicht? Dein Fernseher funktioniert nicht und Du musst einen neuen kaufen? Du weißt nicht, was Du essen oder kochen sollst?

Was sind wirklich Probleme und was ist purer Luxus?

Vielen Dank fürs Lesen, vielleicht hat Dich mein Blogeintrag ein wenig zum Nachdenken gebracht.

Hasta luego,

Linda:-)