Bananenstauden am Strassenrand
Während in Deutschland der Winter bereits in vollem Gange ist, bringen mich Nachrichten wie: „Hier hat es heute geschneit“ nur zum Schmunzeln.
In Medellín herrschen konsequent um die 27 Grad, und die Sonne scheint nahezu immer – außer eben in den Regenstunden.
Diese Temperaturen schränken die Weihnachtsvorbereitungen allerdings nicht im Geringsten ein. Ob bunt blinkende Lichterketten, Weihnachtssterne, Ilex-Zweige aus glitzerndem Plastik oder der klassische (Plastik-)Weihnachtsbaum, selbstverständlich mit Kunstschnee – es gibt alles, und zwar in rauen Mengen. Ich kann mich, wenn ich durch die Einkaufsstraßen laufe, teilweise gar nicht mehr erinnern, was all diese Geschäfte zuvor verkauft haben. Jeder dritte Balkon blinkt bereits mit der Weihnachtsbeleuchtung in den Straßen um die Wette – und dabei hat der Dezember noch nicht einmal begonnen.
Wenn ich abends unser Treppenhaus betrete, brauche ich nicht einmal mehr das Licht einzuschalten – die bunt blinkende Beleuchtung unserer Nachbarn spendet genug Licht und erinnert mich daran, dass Weihnachten bald vor der Tür steht. Durch das Wetter und die schnell vergehende Zeit habe ich das noch nicht wirklich realisiert.
Bei Taxifahrten oder im Supermarkt kommt man an folgender Radiophrase kaum vorbei: „Desde septiembre se siente que viene diciembre.“ Übersetzt heißt das so viel wie: „Seit September fühlt es sich so an, als käme Dezember.“
Welchen großen Stellenwert der Dezember hier hat, wurde mir bereits in meinen ersten Wochen bewusst. „Ach, du bleibst so lange hier? Dann erlebst du ja auch den Dezember hier mit, freu dich schon mal darauf!“ – Diese Aussage, oder zumindest so ähnlich, hörte ich dutzende Male. Aber dazu mehr, wenn ich dann tatsächlich den gesamten Dezember miterleben durfte.
Nun aber zu einem Thema, welches in den letzten beiden Beiträgen überhaupt noch nicht vorkam: das Essen. Jetzt fühle ich mich endlich bereit und mit genug Wissen gewappnet für einen kleinen kulinarischen Exkurs.
Zunächst einmal ist, trotz des warmen Wetters, jede Mahlzeit warm. Sogar Kuchen oder Brot werden extra noch einmal aufgewärmt. Zum Frühstück gibt es Arepa, einen Teigfladen aus Maismehl, meist belegt mit Käse, Ei und Schinken. Das Mittagessen besteht aus einer Suppe beliebiger Art – aber bitte mit Fleisch. Daraufhin folgen Frijoles (rote Bohnen), Reis, Salat, eine halbe gebratene reife Kochbanane und Fleisch. Am beliebtesten ist hier Chicharrón, also gebratener Schweinebauch. Letzteren Bestandteil ersetze ich persönlich problemlos durch Spiegeleier, da es hier tatsächlich recht einfach möglich ist, vegetarisch zu leben – bis auf ein paar verwirrte Blicke und Nachfragen. Das Abendessen ist irgendetwas zwischen Frühstück und Mittagessen. Entweder gibt es wieder Arepas oder eine Variation mit Reis.
Zwischendurch gibt es vor allem Früchte. Von meinem persönlichen Ziel, nämlich alle Früchte hier zu probieren, bin ich wohl immer noch weit entfernt.
In Kolumbien gibt es mehr als 430 endemische Früchte, insgesamt über 1000 verschiedene Obstsorten, was es zum Land mit der weltweit höchsten Fruchtvielfalt pro Quadratkilometer macht. Ob Granadilla, Maracuyá, Guave oder Mangostan: Die Vielfalt in den Märkten und Straßenständen spiegelt genau diese Besonderheit Kolumbiens wider. Wenn ich mit Alejandra einkaufen gehe, frage ich bestimmt jedes Mal ein paarmal: „Und was ist das?“ Wenn mir daraufhin der Name gesagt wird, gucke ich meist nur verwirrt, und meine Begleitung legt die Frucht oder das Gemüse, um das es geht, lächelnd in den Einkaufswagen. Auch die mir bereits bekannten Früchte nochmals zu probieren, lohnt sich. Ich werde vermutlich nie wieder eine Ananas in Deutschland richtig genießen können.
Ansonsten erwähnenswert sind natürlich die Avocados (bzw. Aguacates), die man wirklich alle 20 Meter an verschiedenen Ständen findet. Auch Yuca und Kochbanane, die mir vorher noch fremd waren, gehören jetzt fest zu meinem Alltag.
Neben den Früchten gibt es ein weiteres zentrales Element in der kolumbianischen Küche: Käse.
Am Käse kommt man kaum vorbei, allerdings vor allem in einem süßen Kontext. Ob im Obstsalat, in der heißen Schokolade oder im Eis – überall trifft man auf kleine Käsewürfel. Am liebsten jedoch in Verbindung mit Arequipe, einer Karamellcreme. Da gibt es dann Waffeln mit dieser Creme und Käsestücken oder (natürlich aufgewärmte) Backwaren mit genau der gleichen Kombination. Ich muss zugeben, dass ich mich an diese Zutat noch immer nicht wirklich gewöhnt habe. Das soll es jetzt erst einmal mit dem Ausflug in die kolumbianische Küche gewesen sein.
Anfang November fand der Auftritt der Songs im Zuge eines Festes des Barrio (Stadtviertels) statt – ein besonderer Tag für die Schulkinder, aber auch für mich. Gerade sind die Aufnahmen der Videos und der Tonspur für das Musikvideo in vollem Gange. Das kommende Wochenende wird aus dem Schnitt und der Bearbeitung dieser beiden Videos meinerseits bestehen.
Ansonsten begleite ich Alejandra, die Psychologin der Organisation sowie meine Mitbewohnerin, immer häufiger zu ihren Treffen mit Frauen des Círculo de Protección. Jeden Montag sind Loto (meine Mentorin) und ich seit ein paar Wochen immer im Haus von Republicanas Populares zu finden. Dort startete ein weiterer Kompositionsprozess mit dem Programm Jóvenes en Paz (Jugendliche in Frieden). Dieses Programm existiert in verschiedenen Gebieten unabhängig von Republicanas Populares. Aber auch hier – mit einer Gruppe aus ungefähr 20 Jugendlichen – soll ein Song entstehen.
Ein Highlight des letzten Monats war der 25. November, also der „Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“, den ich im Café Ruda verbrachte. Zunächst wurde fleißig geschmückt. Es wurden Girlanden mit verschiedenen Phrasen wie „Die Straßen gehören uns“ oder „Auf der Straße, zu Hause, im Bett – Frauen frei von Gewalt“ aufgehängt. Diese hatten wir zuvor mithilfe von Siebdruckgittern aufgedruckt. Zubereitet wurden Natilla und Buñuelos, womit ich doch nochmals auf das Essen zurückkomme.
Bei Natilla handelt es sich um einen kolumbianischen Weihnachtspudding, der unter anderem aus Kokosmilch, Maisstärke und Milch besteht. Der Geschmack erinnert entfernt an Grießbrei mit Zimt und Zucker. Buñuelos sind kleine frittierte Teigbällchen, die in der Weihnachtszeit zur Natilla gereicht werden – oft auch mit einem Kern aus Käse, was sonst?
Der Abend bestand aus verschiedenen musikalischen Auftritten, die trotz des ernsten Themas zu einer feierlichen und gelösten Atmosphäre führten.
Wenn man durch Medellín spaziert, ist eines kaum zu übersehen: der äußerst materialistische Umgang mit Spiritualität und Religion. An jeder Ecke gibt es Geschäfte, die Unmengen an Madonnenskulpturen oder Figuren von anderen Heiligen verkaufen. Vor der größten Kirche in meiner Nähe, an der ich häufig vorbeilaufe, muss man sich in einem Labyrinth aus Ständen zurechtfinden. Ob Anhänger, Ketten, Armbänder, Kerzen, Räuchermischungen oder kleine Bibeln – hier wird alles verkauft, was man auch nur irgendwie zur Ausübung von Religion „brauchen“ könnte. Für mich, die zusätzlich nur die evangelische Religion gut kennt, ist dieser Umgang ein völlig neuer.
Aber nicht nur in den christlichen/kirchlichen Praktiken kann man diese Herangehensweise erkennen – auch sonst wird man mit Räucherstäbchen, Edelsteinen, Schutzarmbändern, Tarotkarten oder Ähnlichem überhäuft. Genau erklären kann ich mir diese Beobachtungen allerdings noch nicht ganz.
So wie auch in den anderen Blogbeiträgen – übrigens äußerst empfehlenswert – immer mehr von einkehrender Normalität die Rede ist, kann ich dem nur beipflichten. Während die ersten Uber-Fahrten mir noch fremd und ungewohnt vorkamen, ist das Bestellen eines Motorrad-Ubers mittlerweile das Normalste der Welt geworden. Die Massen an Menschen, die in der Rushhour die Metro nehmen, brachten mich zu Anfang zu Vergleichen mit der U-Bahn während eines Fußballspiels in München. Nun ist auch das für mich bereits alltäglich geworden.
WhatsApp-Nachrichten werden nicht mehr vorsichtshalber einmal durch den Übersetzer gejagt, sondern einfach drauflos getippt. Auch sonst habe ich einen groben Überblick über die Viertel Medellíns, kann Wohnorte von anderen mittlerweile meist gut lokalisieren und habe ungefähr die Entfernung zu meinem Haus im Kopf. Viele Wege finde ich nun ohne Google Maps und zu Fuß.
Mein vergangener Umzug brachte zudem eine Veränderung in meinem Weg zur Metro mit sich, deren Stationsabfolge ich mittlerweile auswendig kann. Diesen bestreite ich nun nicht mehr zu Fuß, sondern mithilfe einer der vielen Buslinien. Während dieses undurchschaubare Busnetz vor drei Monaten noch eine Herausforderung dargestellt hätte, fragte ich nun einfach einen älteren Mann auf der Straße, der mir äußerst hilfsbereit gleich ausführlich erklärte, wo ich wann sein musste, um den Bus zu bekommen.
Der nächste Morgen stellte also überhaupt kein Problem mehr dar. Ich streckte die Hand aus, um dem Bus mit der Nummer 6009 das Anhalten zu signalisieren, und befand mich 10 Minuten später an der gewünschten Metrostation – genauso, wie es mir zuvor erklärt wurde. Als alle Personen, die sich im Bus befanden, dann die drei Stufen zum Aussteigen passierten, drehte sich jede:r einzeln noch einmal kurz um und rief ein „Gracias!“ in Richtung Busfahrer. Ich passte mich dem sogleich an und bedankte mich ebenfalls.
Im Hinblick auf den Fahrstil der Busse ist dieser Dank für das heile Ankommen vielleicht aber auch gerechtfertigt. Bis mich der Busfahrer bei der Rückkehr jedoch zielsicher an meiner Station rausließen, sollte es allerdings noch ein klein wenig dauern. Einen Stopp-Knopf sucht man vergeblich – die Herangehensweise ist, möglichst laut auf sich aufmerksam zu machen. Danach muss man sich durch die aneinandergepressten Menschen kämpfen. Das Positive hierbei ist wohl, dass man selbst bei einer Vollbremsung nicht umfallen kann – dafür fehlt schlicht und einfach der Platz.
Nicht nur das Verkehrsnetz, auch die Palmen, Bananenstauden, Mango- und Avocadobäume, an denen ich tagtäglich vorbeilaufe, würdige ich kaum noch eines Blickes. So sehr gehören sie schon zu meinem Alltag. Nur über das Entdecken von Kolibris freue ich mich jedes Mal noch überschwänglich.
Obwohl uns Alegría auf Trab hält, findet sich abends oft genug Zeit für kleine (oder auch sehr zeitintensive) Balkongespräche mit Alejandra. Da geht es dann um Themen wie Studium, Zukunftspläne, Familie, Freizeit und Freunde, bei denen wir uns oberflächlich recht ähnlich sind, sodass ich manchmal fast das Gefühl habe, mit einer/einem meiner Freund:innen in Deutschland zu sprechen.
Dieser Eindruck täuscht allerdings, denn sobald es etwas tiefer geht, zeigt sich, wie unterschiedlich es doch ist. Diese Erfahrungen mit Gewalt und die Geschichte Medellíns lassen mich oft ohne passende Reaktion und nachdenklich zurück. Nicht nur bei Alejandra, die dann doch auch rund zehn Jahre älter ist als ich, sondern auch bei zwei Freundinnen, die gerade beide studieren, begegnet mir dieses Gefühl, überprivilegiert zu sein, häufiger.
Vor allem in Bezug auf Sicherheit und Möglichkeiten – insbesondere, wenn ich realisiere, wie ich hier ohne riesige Hürden einfach ein Jahr im Ausland verbringen kann und darf. Auch bei Fragen wie „Kannst du schwimmen?“, „Kannst du Fahrrad fahren?“ oder „Du sprichst Englisch und Spanisch?“, die häufig kommen, kehrt dieses Gefühl, verbunden mit einer Machtlosigkeit, zurück. Gerade bleibt mir da wohl nichts weiter übrig, als einfach dankbar zu sein.
Und das bin ich wirklich – für die Zeit, die ich hier verbringen darf, die Menschen, die ich kennenlerne, und die Erfahrungen, die ich sammle. Damit verabschiede ich mich von unserem kleinen Balkon aus, von dem ich in die nächtlich (nun bunt-blinkend) beleuchtete Stadt blicken kann. Bis zum nächsten kleinen Ausflug in meinen Alltag!
Hasta luego!