Vamos a morir
Vamos a morir
Trauer, Stille, Ende. Das sind Begriffe, die ich mit dem Tod assoziiere. Der Tod ist etwas Trauriges. Darüber reden wir nicht. Das reißt doch nur alte Wunden auf. Oder? Die Mexikaner*innen sehen das anders. Das spiegelt sich vor allem in einer der wichtigsten Traditionen des Landes, dem „Día de los Muertos“. Davon möchte ich euch in diesem Beitrag erzählen.
Cempasúchil
Vor einigen Wochen, irgendwann gegen Mitte Oktober, dominierte zwischen den bunten Farben der Stadt plötzlich eine bestimmte Farbe. Orange. Das lag vor allem daran, dass die Straßen sich mit orangenen Blumen, den „Cempasúchil“ gefüllt hatten. Wunderschöne Blumen, die mich an kleine orangene Wolken erinnerten. Der Name „Cempasúchil“ stammt aus dem Náhuatl und bedeutet übersetzt „zwanzig Blumen“. Die Cempasúchil-Pflanze ist eine einheimische Pflanze aus Mittelamerika, die schon vor der Kolonialisierung Amerikas eine große Bedeutung für die indigenen Völker hatte. Die Cempasúchil waren heilig, wurden für religiöse Rituale und Zeremonien verwendet. So glaubten die Azteken daran, dass das Aroma und die intensive Farbe der Blumen die Seelen der Verstorbenen anzogen und ihnen dadurch den Weg zurück zur Erde wiesen. Bis heute ist das die Bedeutung der Cempasúchil am Día de los Muertos. Sie weisen unseren Liebsten, die nicht mehr bei uns sind am 2. November den Weg zurück zu uns zur Erde. Aus diesem Grund werden die Altäre mit Cempasúchil geschmückt.
Ofrendas
Doch welche Altäre sind eigentlich gemeint und welche Bedeutung haben sie? Zum Día de los Muertos werden in Mexiko Ofrendas für die Verstorbenen errichtet, wobei es sich um mehrstöckige Altäre handelt. Traditionell bestehen sie aus sieben Ebenen. Die erste Ebene repräsentiert die Erde. Sie wird mit Kreuzen geschmückt, die aus Cempasúchil-Blüten, Salz oder Asche gelegt werden. Hierdurch soll die Seele der Verstorbenen behütet werden. Auf die zweite Ebene gehört Wasser, das den Durst der Toten nach ihrer langen Reise stillen soll. Die dritte Ebene ist für die liebsten Speisen und Getränke der Verstorbenen da, sodass sie diese bei ihrem Besuch genießen können. Das Fest des Día de los Muertos hat seinen Ursprung in indigenen Traditionen. In vielen indigenen Kulturen spielten Spiritualität und die Verbundenheit zur Natur eine wichtige Rolle. Dies hat auch Eingang in den Día de los Muertos gefunden. So ist die vierte Ebene dem Wind und damit einem der vier Elemente gewidmet. Aus diesem Grund wird sie mit Konfetti und anderen Objekten geschmückt, die den Wind repräsentieren. Der Wind ist hierbei ein Symbol für die Verbindung zwischen der physischen und der spirituellen Welt, das an die unsichtbare Präsenz der Seelen der Verstorbenen erinnern soll. Die fünfte Ebene ist die Ebene der Cempasúchil und die sechste wird für den Weihrauch verwendet. Sowohl die Blumen als auch der Weihrauch fungieren als Wegweiser für die Toten. Zusätzlich reinigt der Weihrauch aber auch die Umgebung von bösen Geistern. Auf der siebten und letzten Ebene werden Bilder der Verstorbenen und von Heiligen aufgestellt, die die Verstorbenen schützen sollen.
So zeigt sich in dieser Tradition deutlich die Vermischung indigener Kulturen mit dem Katholizismus. In den letzten Monaten habe ich diese Vermischung häufig gespürt. Wenn ich Tortillas gefrühstückt habe und mir erzählt wurde, dass schon die indigenen Völker Mexikos diese gegessen haben oder wenn man die Stände neben der Kathedrale sieht, an denen Handarbeiten indigener Menschen verkauft werden. An einer Straßenecke werden Churros verkauft, die ursprünglich aus Spanien kommen. An einer anderen Straßenecke Elote (Maiskolben), die in den indigenen Zivilisationen ein Grundnahrungsmittel waren. Ich finde es unglaublich spannend eine Kultur zu beobachten und zu erleben, die durch die Vermischung mehrerer Kulturen erwachsen ist. Einerseits fasziniert mich zu sehen, wie reich die Kultur ist, die daraus entstanden ist. Andererseits bekomme ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich darüber nachdenke, dass all dies auf einer brutalen Kolonialisierung und Genoziden basiert. Umso erschreckender finde ich es, dass der Rassismus, der in der Kolonialzeit genutzt wurde, um die Unterdrückung und Ermordung der indigenen Völker zu rechtfertigen bis heute nicht beseitigt werden konnte. Bis heute werden indigene Menschen in Mexiko diskriminiert und sind meist von extremer Armut betroffen. Doch egal wie sehr versucht wurde, die indigenen Völker auszurotten: Ihre Kultur und ihre Traditionen konnten nicht vollständig beseitigt werden. Umso wichtiger finde ich es, dass die heutigen Länder in Lateinamerika diesen Teil ihrer Kultur anerkennen und fördern, denn er gehört dazu und das ist wunderschön.


Fiesta
Auch der Umgang mit dem Tod, den es in Mexiko gibt, hat seinen Ursprung in der Lebensauffassung der indigenen Völker, die das Leben als Zyklus und den Tod als Teil von diesem sahen. So wird am Día de los Muertos nicht getrauert. Es wird gefeiert. Auch in meiner Einsatzstelle gab es eine große Feier mit der ganzen Schule. Die Kinder kamen alle als Catrinas und Catrinos verkleidet. Auch die Catrina ist am Día de los Muertos ein wichtiges Symbol. Die Figur der Catrina wurde 1910 vom Künstler José Guadalupe Posada geschaffen und sollte eine Kritik an den Mexikanern mit indigenen Wurzeln sein, die ihre Identität negierten und um jeden Preis europäisch wirken wollten.

An diesem Tag war die ganze Schule geschmückt. Auf dem Schulhof wurden Altäre errichtet und ein riesiger Totenkopf aufgestellt. Es wurde Pan de Muertos (süßes Brot, das an der Oberfläche die Form eines Knochens hat) gegessen und heiße Schokolade getrunken. Alle Jahrgänge hatten ihren eigenen kleinen Auftritt. Es wurde gesungen und getanzt. Eines der Lieder, zu dem gesungen und getanzt wurde, war mir schon die ganze Woche nicht aus dem Kopf gegangen. Denn als die Vorbereitungen für die Feier losgingen, saß ich in einem Klassenraum und war gerade dabei etwas zu basteln, um den Raum zu schmücken als auf einmal ein sehr fröhliches Lied ertönte. Der Refrain bestand aus einer Wiederholung des Satzes „Vamos a morir“ (Wir werden sterben), doch die Musik war sehr heiter. Im ersten Moment war das sehr befremdlich und wirkte absurd. Das erste, was ich (nicht ganz ernstgemeint, aber doch ein bisschen) gesagt habe, war: „Freut ihr euch jetzt, dass ich sterben werdet?“. Das hatte alle sehr zum Lachen gebracht.







Obwohl ich den Umgang mit dem Tod hier zunächst absurd fand, muss ich sagen, dass ich in den Tagen des Día de los Muertos viel gelernt habe. Denn es wird nicht gefeiert, dass wir sterben. Was gefeiert wird, ist das Leben. Ja, ich wurde definitiv daran erinnert, dass ich sterben werde. Doch das heißt doch nur, dass ich mein Leben umso mehr genießen sollte, dass ich umso mehr erleben und erfahren sollte. Denn wie alle hier so schön sagen: Das Einzige, was wir im Leben sicher wissen, ist das wir sterben werden. Und gleichzeitig muss der Tod kein Tabu sein, er gehört eben dazu. Und er bedeutet nicht das Ende. Wie der Día de los Muertos zeigt, lebt man in den Herzen seiner Liebsten weiter. Und was heißt Ende überhaupt? Betrachtet man das Leben nicht auf individueller Ebene, sondern als Teil eines großen Ganzen, als Teil eines natürlichen Zyklus, sind sowohl Leben als auch Tod lediglich ein Teil dieses Zyklus. Ein Blick in die Biologie verdeutlicht sehr schnell, dass Umwelt und Natur aus Kreisläufen bestehen. Warum also ist der Tod so ein großes Tabu? Dass der Tod geliebter Menschen traurig ist, liegt auf der Hand. Doch vielleicht können wir lernen, dass wir nicht unendlich schweigen und trauern müssen. Wir können die Toten auch feiern, mit ihnen feiern und sie auf diese Weise in Erinnerung halten.

Ich hoffe, dass ihr einen guten Einblick in diese besondere mexikanische Tradition bekommen habt und, dass euch die andere Umgangsweise mit dem Tod, die es hier in Mexiko gibt ein wenig dazu angeregt hat über Leben und Tod nachzudenken und eure Perspektiven zu erweitern.
Zum Schluss also eine kleine Botschaft an meine Liebsten: Wenn ich eines Tages nicht mehr da bin, dann wünsche ich mir, dass ihr nicht um mich trauert, sondern für mich feiert.
Liebe Grüße aus Mexiko,
Sayen












