Im Sommerregen

Ein Blick in den Kalender: Seit dem ersten Beitrag sind nun eineinhalb Monate vergangen, in denen viel passiert ist. Kaum zu glauben, dass sich damit bereits ein Viertel des Jahres beschließt.

Zunächst einmal stand ein (zugegebenermaßen sehr touristischer) Ausflug in das wohl bekannteste Stadtviertel Medellíns an: die Comuna 13. Im Westen der Stadt schmiegt sich dieses Viertel, das auch „San Javier“ heißt, an die steilen Berghänge. Durch seine Lage war die Comuna 13 in der Vergangenheit einer der wichtigsten Orte Medellíns. Das ist sie heute immer noch, allerdings in einem ganz anderen Kontext. Denn vor allem beim Drogenschmuggel spielte das Viertel eine zentrale Rolle. Durch den Zugang zu der Hauptroute, die zu den Häfen im Pazifik führt, war sie unentbehrlich – egal ob für den Drogen- oder Waffenhandel. So ergibt sich auch die Beliebtheit bei den Drogenkartellen der 80er Jahre. Pablo Escobar herrschte in Medellín insbesondere über die Comuna 13, und aufgrund der Relevanz und Beliebtheit des Viertels herrschte ein ständiger Kampf um die Vorherrschaft. Dies ging Hand in Hand mit Morden, Entführungen, Korruption und allgemeiner Gewalt. Die hohe Arbeitslosenquote machte es den Kartellen einfach, junge Männer „anzuwerben“. Sie arbeiteten dann als Drogendealer, Spitzel oder sogar Auftragsmörder. Die Comuna 13 rutschte sozial immer weiter ab und galt als eines der gefährlichsten Viertel in der weltweit gefährlichsten Stadt. Zwischen 1980 und 1991 verzeichnete Medellín mit knapp 400 Morden auf 100.000 Einwohner die angeblich höchste Mordrate der Welt.

Das Viertel war gefürchtet, niemand kam es in den Sinn, freiwillig in die Comuna 13 zu gehen. In Erzählungen einer Kolumbianerin erfuhr ich später, dass zum Beispiel die Taxifahrer früher Fahrten nach San Javier ablehnten.

Heute ist dem Ort diese Vergangenheit auf den ersten Blick nicht mehr anzumerken, und die Comuna 13 ist zu einem der wichtigsten Orte für die Hip-Hop-Szene Kolumbiens geworden. Zahlreiche Graffitis schmücken die Wände, einen stillen Ort findet man kaum, und Touristenattraktionen reihen sich aneinander. An kaum einen Ort weisen die bunten Häuser, die es mir ohnehin schon angetan haben, so viele Farben auf. Dieser rapide Wandel wurde vor allem durch die Investitionen der Regierung möglich. Diese zeigen sich beispielsweise im Metrocable (der Seilbahn) oder in den Freiluftrolltreppen, die die Zugänglichkeit des unglaublich bergigen Viertels vor allem für die älteren Bewohner:innen erleichtern.

Heute symbolisiert die Comuna 13 Aufbruch, Wandel und Jugend und gilt als einer der sichersten Orte in Medellín. Auch ohne direkten Bezug zur grausamen Vergangenheit ist die Hoffnung, die dieser Ort ausstrahlt, spürbar. Sebastian, ein Graffiti-Künstler, Tänzer und Bewohner der Comuna 13, erklärte uns in einer Tour die Bedeutung der wichtigsten Graffitis, durch deren Hintergrund die Historie dann doch wieder spürbar wird. Durch ihn erfuhren wir auch die vier wichtigen Elemente des Hip-Hops, nämlich Rap, Breakdance, DJing und Sprayen. An Letzterem versuchten wir uns auch – allerdings eher erfolglos.

 

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Aber nun zur Einsatzstelle. Die beiden Songs der Gruppen aus Schulkindern werden nun mittlerweile fleißig für einen Auftritt und die Aufnahme in einem Studio geübt. Auch die Titel der beiden Lieder stehen nun fest, dabei handelt es sich einmal um „Mundo nuevo“ (dt. neue Welt) und um „Somos el futuro“ (dt. Wir sind die Zukunft). Außerdem findet seit einigen Wochen jeden Samstag und Sonntag ein Englischkurs statt. Dabei ist sowohl Vorbereitung als auch Durchführung vollkommen mir überlassen. Während ich also vor rund einem Jahr noch als Schülerin im Unterricht saß, hat sich dies nun einmal komplett gewendet und ich darf Erfahrungen im Unterrichten sammeln.

 

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Die verbleibende Arbeitszeit, die weiterhin aus Übersetzungen besteht, bringe ich zu großem Teil im Café Ruda zu, welches auch Teil der Corporation ist. Dieser Name kommt von der gleichnamigen Pflanze (deutsch: Raute). Diese Pflanze wurde ausgewählt, da sie früher von ungewollt schwangeren Frauen zur Abtreibung verwendet wurde und der Name soll auf diese Einschränkung der Menschenrechte, in Form von Verweigerung der ärztlichen Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen, aufmerksam machen und Bewusstsein schaffen.

Eine weitere Veränderung in meinem Leben brachte ein Umzug. Die ersten beiden Monate verbrachte ich bei Carol, der Direktorin der Corporación, direkt im Zentrum der Stadt. Für das gesamte Jahr ist dieser Wohnort aufgrund von Carols Stellung als Direktorin rechtlich nicht möglich, und so packte ich ein weiteres Mal meine Koffer, und es ging in das Viertel „Bostón“, welches sich etwas mehr am Rande der Stadt befindet. Nun wache ich nicht mehr durch Musik oder die Ansagen der Obststände auf, sondern durch Hahnengeschrei. Alejandra, mit welcher ich nun zusammenlebe, ist eine der Psychologinnen von Republicanas Populares. Allerdings leben sie und ich nicht alleine in der Wohnung. Während ihr Kater Sombra schon vor meiner Ankunft fester Bestandteil ihres Lebens war, zog nur wenige Tage nach meinem Einzug der zu dem Zeitpunkt sieben Wochen alte Hund namens Alegría ein.

Nach meinem Englischkurs am Samstag begleitete ich Alejandra bisher zweimal zu einer Frauengruppe, in der sie eine Art Gruppentherapie durchführt. Dafür ging es mit dem Motorrad eine abenteuerliche Strecke, bestehend aus Serpentinen, hinauf. Diese führte bis nach „La Cruz“, einem der höchsten Punkte Medellíns.

 

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Im Gespräch der Frauen hörte ich Geschichten von schweren Schicksalen, wie dem Leben auf der Straße im Kindesalter, Vergewaltigungen und dem Alltag im Krieg. Die vereinzelt noch bestehende Sprachbarriere „ersparte“ mir Details, aber die Kontexte verstand ich klar. Zu Beginn kam mir das immer mal wieder eingeschobene Lachen befremdlich vor, ich bemerkte allerdings recht schnell, dass dies ein wichtiges Element in der Verarbeitung ist. Beeindruckend zu sehen ist, mit welcher Kraft die Frauen ihr Leben durchwegs zum Besseren gewendet haben.

Im Alltag und in oberflächlichen Unterhaltungen ist die grausame und schreckliche Vergangenheit – und in Teilen auch Gegenwart – Medellíns tatsächlich eher selten Thema. Es bedarf aber kaum Aufwand, und man sieht sich mit diesem Thema intensiv konfrontiert. So endete beispielsweise eine Theateraufführung, die ich mit Alejandra besuchte, in einem tränenreichen Austausch über die persönlichen Erfahrungen mit Gewalt, Deplatzierung und Morden. Im „Museo de Memoria“ sind genau diese Geschichten Ausstellungsinhalt.

 

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In besagtem „Museo de Memoria“

 

Im Kontrast zu diesem düsteren Thema, oder vielleicht auch gerade deswegen, zeichnet sich der Alltag in Medellín als unglaublich ereignisreich und lebhaft ab. Sei es ein (Musik-)Festival, eine Buchmesse oder einfach die permanente Feierstimmung – immer ist etwas geboten. Zuhause verbringt man kaum Zeit, und wenn man vom Wochenende nicht mindestens drei spannende Ereignisse, von denen man erzählen kann, vorzuweisen hat, wird man fast schief angeschaut.

Zum Abschluss spreche ich noch eine – wie mir hier bisher gespiegelt wurde – sehr deutsche Sache an: nämlich das Wetter. Denn laut meiner Mentorin gibt es ihrer Auffassung nach kaum ein Thema, das die Deutschen mehr interessiert. Während es im einen Moment nämlich 30° Grad warm ist und die Sonne dazu führt, dass sämtliche Menschen ihren Regenschirm aufspannen, um sich vor der Einstrahlung zu schützen, bekommen diese Regenschirme (die in der direkten Übersetzung aus dem Spanischen auch eher „Schattenschirme“ heißen) im nächsten Moment die ihnen in der deutschen Sprache zugeschriebene Funktion – nämlich strömenden Regen abzuhalten. Seit September muss man genau damit ein bis zwei Mal pro Tag rechnen.

 

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Zwischen beiden Bildern liegt hier zum Beispiel nur rund eine halbe Stunde

 

Die verbundenen Gewitter führen dann auch gut und gerne mal zu Stromausfällen oder zu Bächen mit reißender Strömung neben den Gehsteigen (die teils aber eher aus Treppen und Abgründen bestehen). Ich für meinen Teil fand mich im letzten Monat bestimmt vier Mal durchnässt wartend im oft eben auch dunklen, immer aber überfüllten Supermarkt wieder. Also egal ob Regen- oder Schattenschirm – man hat ihn lieber dabei.

Mit diesem Lernerfolg verabschiede ich mich nun auch fürs Erste und hoffe, dass ich bei meinem Heimweg gleich nicht nass werde. Bis bald!