Anders Heimat
Mittlerweile ist die Regenzeit hier in voller Pracht zu erleben. Was wir in Deutschland als feste Jahreszeiten kennen, teilt sich auf der anderen Seite des Globus in Regen- und Trockenzeit auf. Die Straßen von Cajamarca gleichen vielen Tagen einem reißenden Fluss, das erste Mal in meinem Leben komme ich um eine Regenjacke nicht herum.
Nun ist die letzten Wochen schon wieder so viel passiert. Adventszeit, Weihnachten, Neujahr. Eines habe ich in dieser Zeit noch einmal mehr wahrgenommen: die Besonderheit von Gesten, und das weniger starke Gewicht von Überfluss. In Deutschland sehen wir oft nur, was wir nicht haben. Sehen und schätzen seltener die Dinge, die unser Leben doch in Summe so unbekümmert machen. Zusammen mal ein Eis essen, einen Sonnenuntergang beobachten, eine Umarmung oder das Wissen, jemandem gerade eine Kleinigkeit beigebracht zu haben. So schöne Dinge, die man, vielleicht, auch erst mit großem Abstand zu seiner Heimat wieder lieben und schätzen lernt.
Ende November haben wir bei MICANTO den Beginn der Adventszeit gefeiert. Hundert kleine Ansteckkerzen für die Kids, ganz viel weihnachtsfarbige Glitzerdeko, ein riesiger Adventskranz mit dunkellila Kerzen. Die ganz Kleinen haben Weihnachtskarten für alle ausgemalt, eine Gruppe hat ein Theaterstück geprobt, eine andere einen Tanz einstudiert. Bei solchen Festlichkeiten lerne ich auch immer gleich handwerklich dazu. Beispielsweise einen Tannenbaum aus Girlanden an einer Wand aufzubauen, ohne dass das Kreppband ihnen und den darauf platzierten Verzierungen nachgibt. Aber seht selbst:
Unsere Weihnachtsfeier ließ danach nicht lange auf sich warten. Schon viele Wochen zuvor hatten die Kinder aus den diversen Barrios von Cajamarca kleine Aufführungen in ihren Gruppen eingeprobt. Tänze und Lieder, mit traditionellen Gewändern oder klassisch roter Weihnachtsmütze. Rund zweihundert Kinder waren es an diesem sonnigen Tag. Für jedes von ihnen hatten wir eine Tüte mit süß-salzigen Kleinigkeiten vorbereitet, darin ganz präsent: Panetón. Das an jeder Straßenecke Perus vertretene Gebäck zur Weihnachtszeit. Ich musste selber kurz googeln, um es richtig beschreiben zu können. Kurzfassung: kommt ursprünglich aus Italien, ist aus Hefeteig, sehr süß, mit Rosinen und kandierten Fruchtstücken vermengt. Ab Weihnachten darf das hier in keinem Haushalt fehlen und steht bunt verpackt in jedem Ladeneingang.
Auch ich war Teil einer Gruppe, den Creciendo Semillitas, auf Deutsch „wachsende Samen“. Mit den kleinen Kids aus San Juan, einem Stadtteil rund eine Stunde von Cajamarca, haben wir eine Tanzversion von „Jingle Bells“ einstudiert. Ich wurde kurzerhand noch zum Papá Noel umgestaltet, dem hier so genannten Weihnachtsmann. Aus einem der diversen Kostümgeschäfte haben wir ein passendes Outfit ausgeliehen – ein Komplettpaket aus roter Mütze mit weißem Bart bis hin zu schwarzen Stiefeln. Bei rund zwanzig Grad und Sonnenschein haben wir dann alle zusammen die Weihnachtszeit eingeläutet, mit großem Krippenspiel, Tanz und vielen lachenden Gesichtern.
Natürlich durften Fotos mit dem Weihnachtsmann nicht fehlen. Besonders niedlich: Als mir eine Mutter ihr kleines Kind für ein Foto in den Arm gab. Zusammen mit meiner Kollegin als Mamá Noel standen wir gerade bereit für den Schnappschuss, als das kleine Baby seinen Arm ausstreckte. Das Ergebnis:
Kurz vor Heiligabend erreichte meine Einsatzstelle noch eine Spende über mehrere hundert Euro, um Lebensmittel für bedürftige Familien einzukaufen. Früh morgens, am vierundzwanzigsten Dezember, machten wir uns auf den Weg. Fünfzig Kilo Reis, Joghurt, Nudeln, Panetón, Kekse und viel mehr, dazu ein paar Süßigkeiten für die kleinen Mitglieder der Familie. Alles, was man zum Kochen und Weihnachten feiern so gebrauchen kann. Jeder Familie hatten wir damit ein Paket aus Lebensmitteln geschnürt, mit gefüllten Taschen gingen sie glücklich wieder nach Hause. Das nenne ich mal gelebte Nächstenliebe.
Abends war ich mit meiner Gastfamilie zusammen. Die bunt geschmückte Krippe stand neben dem leuchtenden Weihnachtsbaum, unter ihm für jeden ein Geschenk. Auf einer kleinen Papiertüte war ein Foto von mir abgedruckt, darin eine Mischung aus Keksen. Süß. Gemeinsam haben wir zur Feier des Tages gegessen, Truthahn mit Kartoffeln und Reis. Als es Mitternacht wurde, sind wir auf das Dach des Hauses hoch. Nicht nur zu Silvester gibt es hier Feuerwerk, auch zu Weihnachten. Das Spektakel schaut sich hier jeder an. Und als es dann zwölf Uhr läutete, füllte sich der Himmel nach und nach mit bunten Lichtern. Ein paar Tage zuvor hatte ich noch Sorge darum, wie dieses Weihnachten wohl werden würde. So ohne Familie, ohne heimisches Wohnzimmer. Schließlich war es ein sehr schönes Weihnachten. Es war anders. Aber auch irgendwie heimisch. Anders heimisch.
Kurz darauf nahte auch schon das Ende dieses Jahres. Das erste Mal Silvester in Peru. Schon am Tag zuvor reihten sich am Markt viele kleine Stände mit Dekoration, alles in Gelb. Die Sonnenfarbe steht hier für Glück und positive Energie, soll der Tradition nach Wärme, Erfolg und Freude ins neue Jahr tragen. Meine Mitfreiwillige Antonia kam über diese Tage aus Urubamba zu Besuch. Einige Stunden vor Beginn des neuen Jahres zogen wir durch die gelb geschmückten Gassen und nahmen alles mit, was uns so in die Hände fiel. Gelbe Blumen, gelbe Kerzen und Girlanden, gelbgoldene Hüte und Brillen. Und natürlich auch ein paar Wunderkerzen. Die Terrasse war geschmückt, Dinner for One mit spanischen Untertiteln, dazu ein Gläschen Sekt. So sind wir gelbgoldig ins neue Jahr gestartet, mit Feuerwerk am Nachthimmel und unseren kleinen Wunderkerzen in der Hand. Ein wunderschöner Anfang für neue zwölf Monate.
Dieses Peru ist wirklich ein tolles Land. Eines mit immer neuen Überraschungen, Erlebnissen und viel Heiterkeit. In Deutschland ist nun wohl jeder in Wahljargon verflochten. Nicht viel bekommt man davon am anderen Ende der Welt mit. Nur das immerwährende Gefühl, die Heimat versinkt im Sog von Hass, Hetze, Missgunst und Zorn. Daher ein kleiner Appell nach da draußen: Denkt nicht nur an euch, sondern immer mal auch an die anderen in der Welt. Menschen, Kulturen und Gesellschaften kennt man nicht, nur weil man ihre Fassade gelesen hat oder meint, sich Meinungen anderer annehmen zu müssen. Egal ob jung oder alt, klein oder groß, egal welcher Herkunft, Kultur, Religion, Sprache. In dieser Welt gibt es nicht nur schwarz und weiß. Jeder verdient es gekannt zu werden, bevor man sich ein Urteil über ihn macht. Jeder Mensch ist ein Mensch.
In den peruanischen Anden ist es gerade ruhig, leise plätschert die Regenrinne vor zwitschernden Vögeln und bellenden Hunden. Die gelben Silvesterblumen stehen hier noch genauso strahlend frisch vor meinen Augen. Kleine Erinnerung zum Schluss: Heute ist Dreikönigsfest. Bis zur nächsten Geschichte und Frohes Neues!
Was für ein toller, lebendiger Bericht! Da möchte man direkt los und seinen Rucksack packen… Dir weiterhin eine aufregende Zeit voller beeindruckender Erlebnisse – ich freue mich auf deinen nächsten Beitrag!
Guten Morgen Michel,
sehr treffend geschrieben !
Es vermittelt Unbeteiligten perfekt die hiesige Atmosphäre und wie sich Perspektiven ändern oder aber auch bestätigen, wenn man nicht nur immer sich selbst in den Mittelpunkt (der Welt) stellt.
Viele Grüße
Liborius
Lieber Michel, ein wirklich toller Bericht und wie Recht du hast, wirklich mal in sich gehen und an all die anderen Menschen denken, Wohlstand ist nicht alles, glücklich zu sein, mit dem was man hat. Ich wünsche dir noch tolle Tage in Peru und natürlich auch ein gutes neues Jahr.
Alles richtig gemacht. All die Erlebnisse, die Du so toll geschildert hast, werden Dich Dein ganzes Leben lang begleiten.
Mach weiter so !