Ein Land voller Farben

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie unsere Betreuerin Clara uns auf dem letzten Vorbereitungsseminar gesagt hat: „Man realisiert es auch im Flugzeug nicht.“ Sie hatte recht.

Rosa

Am 14. August stieg ich nach einem aufwühlenden Morgen und einem tränenreichen Abschied von meiner Familie und meinem Freund gegen sieben Uhr in den Flieger.  Ich landete in Madrid, überquerte den atlantischen Ozean, um nach Dallas zu gelangen. Hierbei kreisten meine Gedanken vor allem um die Menschen, die ich zurückgelassen hatte, die Menschen, die mein Zuhause sind. Nun war ich auf dem Weg in mein neues Zuhause. Obwohl ich schon hoch über dem atlantischen Ozean war, fühlte sich diese Tatsache noch immer nicht greifbar an. Ich realisierte weiterhin nicht, dass dieser neue Lebensabschnitt nun beginnen würde. Ich dachte an Claras Worte und merkte, dass sie absolut recht gehabt hatte.

Nach gut 24 Stunden (und sehr wenig Schlaf) kam ich in Guadalajara an. Hier wurde ich von Conny, meiner Vorgesetzten, in Empfang genommen. In Guadalajara war es schon nachts als ich ankam. Die Straßen waren überschwemmt, es regnete in Strömen. So einen starken Regen hatte ich noch nie erlebt, was mich als Hamburgerin ganz schön überrascht hat. Grund für den Starkregen in Jalisco, dem Bundesstaat, in dem sich Guadalajara befindet, ist die Klimakrise. Mexiko ist einer der Orte, an dem die Auswirkungen der Klimakrise schon jetzt besonders deutlich werden. Die Extremwetterereignisse haben sich hier in den vergangenen Jahren vervielfacht. So bekam ich das extreme Wetter schon bei meiner Ankunft zu spüren.

Ebenso bekam ich die Herzlichkeit der Menschen schon bei meiner Ankunft zu spüren. Auf dem Weg vom Flughafen zum Haus meiner Gastmutter erhielt ich von Conny eine ausführliche Stadtführung. Nach einer Stunde Fahrt hielten wir an. Direkt vor einem kleinen rosa Haus im mexikanischen Altbaustil. Das war es also. Das war mein neues Zuhause. Meine Gastmutter, Haydée, begrüßte mich mit offenen Armen. Als ich ins Haus eintrat, sah ich als erstes eine kleine Schildkröte und eine Katze im Innenhof des Hauses, der mit Pflanzen vollgestellt war. Eine wunderschöne Kulisse und meine neuen Haustiere, die auch rausgekommen waren, um mich zu begrüßen.

Gelb

Die ersten Tage nach meiner Ankunft waren ruhig, da meine Einsatzstelle noch Ferien hatte. So konnte ich in Ruhe meinen Jetlag ausschlafen, mein Zimmer einrichten und ankommen. Mit meiner Gastmutter erkundete ich die Umgebung. In Guadalajara gibt es viel zu sehen, viel zu erleben. Denn die Stadt ist unglaublich groß. Mit ca. 5,3 Millionen Einwohnern ist sie ein ganzes Stück größer als Hamburg, das dagegen wie ein Dorf wirkt. Haydée und ich wohnen mitten im Herzen der Metropole, im Zentrum. Somit sind viele Sehenswürdigkeiten, wie z.B. die Kathedrale fußläufig zu erreichen.

Am meisten aufgefallen ist mir jedoch der Markt, auf dem wir Lebensmittel einkaufen. Mit deutschen Supermärkten hat das wenig zu tun. Man betritt eine Markthalle mit vielen offenen Ständen. An einer Ecke sieht man Berge an duftenden Mangos an der anderen Ecke einen Taco-Stand. Verkäufer*innen und Kund*innen kennen sich zum Teil, doch auch wenn sie sich fremd sind, gehen sie miteinander um, als wären sie seit Jahren befreundet. Unterhalten sich, lachen zusammen. Die Mentalität der Menschen hier ist ganz anders. Während es in Deutschland eher selten vorkommt, dass man sich mit fremden Menschen im öffentlichen Raum länger unterhält, ist das hier gang und gebe. Die Menschen hier sind jedem gegenüber offen und freundlich. So spürt man die Lebensfreude, die Herzlichkeit bei jeder kleinen Begegnung im Alltag. Egal wo man hinkommt, man wird mit einem Lächeln begrüßt.

Blau

Nach einer Woche ging es für mich dann zum ersten Mal in die Einsatzstelle. Das “Centro Educativo La Barranca” ist eine Schule am Stadtrand Guadalajaras für Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Die Kinder habe ich zunächst aber noch nicht kennengelernt, da sie noch Sommerferien hatten. Stattdessen durfte ich mit den Lehrer*innen an einem Workshop über den Umgang mit Gefühlen teilnehmen. Der Workshop war sehr bereichernd, denn obwohl ich herzlich aufgenommen wurde und sehr froh bin, diese Erfahrung machen zu dürfen, waren die ersten Wochen emotional nicht ganz einfach. Die vielen neuen Eindrücke sind manchmal überwältigend und ich muss lernen Zeit mit mir selbst zu verbringen. Doch mittlerweile hat sich mein Alltag etwas mehr eingependelt und ich lebe mich Stück für Stück weiter ein.

Anfang September habe die Kinder kennengelernt, die mich sofort mit ihrer fröhlichen und liebevollen Art angesteckt haben. Ich wurde direkt von ganz vielen Kindern umarmt. Man hat gemerkt, dass sie ganz neugierig waren ihre neue “maestra”, wie sie mich nennen, kennenzulernen. Der Umgang untereinander, egal ob zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen oder unter den Lehrkräften ist sehr vertraut und liebevoll. Man muss sich “La Barranca” wie eine große Familie vorstellen, von der ich nach und nach auch Teil werde.

Meine Aufgaben in der Einsatzstelle sind vielfältig. Zum einen darf ich die Lehrkräfte in den Klassenräumen unterstützen, was mir sehr viel Freude bereitet, weil ich gerne mit Kindern arbeite. Außerdem darf ich bei der Gartenarbeit unterstützen und muss Flaschendeckel aus den Klassen einsammeln. Denn diese werden gesammelt und dann an eine Organisation gespendet, die Medikamente für krebskranke Kinder finanziert. Was mich am meisten freut, ist, dass ich hier sogar einen Debatten-Club für die “Secundaria”, die Mittelstufe, anbieten darf.

Orange

Warum eigentlich diese Zwischenüberschriften? Was sollen diese Farben bedeuten? Mexiko ist ein Land voller Farben. Sie spiegeln sich in der Wärme, mit der die Menschen einem begegnen. Sie spiegeln sich, wenn man durch die Straßen spaziert und an den Häusern vorbeiläuft, den Häusern in allen möglichen Farben, bunt zusammen gewürfelt. In Ajijic, einem kleinen Ort am Lago de Chapala, ist mir dies besonders aufgefallen. Dort war ich am Wochenende mit einer Lehrerin aus der Schule und ihren Freundinnen. Der Lago de Chapala ist der größte See Mexikos. Ein beeindruckender Ort, der mit den vielen kleinen Fischerbooten und den Bergen wirkt, wie aus einem Gemälde ausgeschnitten. Geht man in Ajijic durch die Straßen hört man Mariachi-Musik, läuft durch bunte Gassen und blickt auf grüne Berge. Ein magischer Ort, an den ich mit Sicherheit zurückkehren werde.

Genauso magisch war die Rückfahrt nach Guadalajara. Wir fuhren im Sonnenuntergang an den Bergen vorbei. Der Himmel war orange und der Wind wehte durch meine Haare. Klingt total kitschig? War es auch. Doch es sind eben solche Momente, in denen man sich besonders lebendig fühlt, egal wie kitschig sie klingen mögen. Schon jetzt merke ich, dass Mexiko vor allem eins ist: Ein Land voller Leben und Freude.

Ich finde das sehr bewundernswert. Denn wenn man durch die Straßen spaziert, sieht man nicht nur Farben. Man sieht auch die Armut. Menschen, die auf der Straße leben. Menschen, die Süßigkeiten in Bussen verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen. Armut gibt es auch in Deutschland. Doch hier ist die Armut anders. Sie ist extrem. So extrem, dass Menschen keinen Zugang zur Grundversorgung haben. Die Armut ist allgegenwärtig. Nichtsdestotrotz strahlen die Menschen eine Lebensfreude aus, die man so aus Deutschland – einem reichen Industrieland- nicht kennt. Ich halte das für bewundernswert. In Deutschland lernen wir viel über Armut. Auch auf unseren Vorbereitungsseminaren haben wir das Thema behandelt. Doch mit eigenen Augen zu sehen, wie sich globale Ungleichheiten, wie sich Armut auf Menschen auswirkt, ist etwas anderes als theoretisch darüber zu lernen. Es lässt mich nachdenken, zweifeln, macht mich wütend und traurig. Wie ist es möglich, dass wir dieses Leid zulassen? Was muss sich ändern? Was können wir dagegen tun? Doch mich beschäftigt auch, wie man Reichtum definieren kann. Denn Mexiko mag materiell gesehen ein armes Land sein, doch kulturell und menschlich ist es eines der reichsten Länder, das ich bisher kennenlernen durfte.

previous arrow
next arrow

Grün, Weiß, Rot

Die Mexikaner*innen sind stolz auf ihr Land. Sie sind stolz auf alles, was zu Mexiko gehört. Die Menschen, die Natur, das unglaublich gute Essen. Diesen Stolz leben sie auch aus. Das durfte ich zum ersten Mal bei den “Honores” erfahren, die hier in der Schule jeden Montag stattfinden. Hierbei wird die Flagge geehrt. Mädchen aus der “Secundaria” führen eine Parade vor, die Flagge wird gegrüßt und die ganze Schule singt die Nationalhymne. Um ehrlich zu sein, war das für mich im ersten Moment ein ganz schön großer Schock. Von meinen Eltern wusste ich, dass solche Traditionen in vielen lateinamerikanischen Ländern existieren. Meine Mutter hat mir häufig davon erzählt, wie sie damals in der Schule die ecuadorianische Flagge geehrt hat. Doch irgendwie hat mich die Realität in diesem Moment trotzdem ein wenig überrumpelt. Es war ein ungewohntes Gefühl. Im ersten Moment war es mir ein bisschen unangenehm. Ich wusste nicht ganz, wie ich mich verhalten sollte, denn die Nationalhymne, die selbst alle fünfjährigen Erstklässler mitsingen konnten, kannte ich nicht. Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Ich habe noch lange über dieses Erlebnis nachgedacht.

Am 15. September fand in der Schule dann die große Feier zum “Día de la Independencia” – dem Nationalfeiertag Mexikos – statt. Kinder und Lehrkräfte kamen in traditioneller mexikanischer Kleidung zur Schule und jedes Klassenzimmer hatte die Aufgabe einen mexikanischen Bundesstaat zu repräsentieren. Auch mexikanische Gerichte wie Tacos, Mole und Tamales durften nicht fehlen. An diesem Tag fand kein Unterricht statt: Es wurde gefeiert! Die Lehrkräfte führten ein Theaterstück auf, das Aufschluss darüber gab, wie Mexiko seine Unabhängigkeit von den Spaniern erreicht hatte. Das Highlight war jedoch “el grito”. Damit ist der Unabhängigkeitsschrei gemeint, der mit “Viva México!” endet.

Am Abend wurde auch im Zentrum gefeiert. Auf vielen Plätzen traten Mariachis auf und die ganze Stadt war in den drei Farben der mexikanischen Flagge – grün, weiß und rot – ausgeleuchtet. Um 23 Uhr schaute ich mir mit meiner Gastmutter im Fernsehen den Unabhängigkeitsschrei von der Präsidentin Claudia Sheinbaum an. Der erste „grito“ in der Geschichte Mexikos von einer Frau und damit ein historisches Ereignis. Ich werde niemals vergessen, dass ich es vor Ort in Mexiko miterleben durfte, wenn auch nur im Fernsehen.

Ich habe erlebt, wie die Mexikaner*innen ihr Land mit Leidenschaft feiern. Auch wenn sich das für mich ungewohnt anfühlt, weil ich diesen Nationalstolz aus Deutschland nicht kenne, glaube ich nicht, dass er etwas Schlechtes ist. Denn Mexiko ist ein Land, das sich von einer Kolonialherrschaft befreit hat, in der die Bevölkerung massiv unterdrückt wurde. Doch die Menschen haben für ihre Unabhängigkeit und ihre Rechte gekämpft und sich davon befreit. Darauf kann man aus meiner Sicht stolz sein. Bis heute wirkt sich die Kolonialgeschichte auf das Land aus. Fragt man sich, weshalb Mexiko auf materieller Ebene ein armes Land ist, führt kein Weg am Kolonialismus vorbei. Trotzdem ist Mexiko ein buntes Land voller Lebensfreude, das so viel zu bieten hat. Genau deswegen glaube ich, dass man den Nationalstolz in Mexiko, aber auch in anderen Ländern des globalen Südens mit ähnlicher Geschichte, nicht mit dem Nationalstolz in Ländern des globalen Nordens vergleichen kann. Es waren letztere, die für die Unterdrückung zur Kolonialzeit verantwortlich waren. So habe ich gelernt, dass Patriotismus nichts Schlechtes sein muss, dass man ihn auch mit viel Freude und Gemeinschaft ausleben kann. Aber vor allem, dass man mexikanischen Nationalstolz nicht mit deutschem vergleichen kann und deswegen nicht voreilig urteilen sollte.

¡Viva la dignidad del pueblo de México!
¡Viva la libertad!
¡Viva la igualdad!
¡Viva la democracia!
¡Viva la justicia!
¡Viva México, libre, independiente y soberano!
¡Viva México!
previous arrow
next arrow

Bunt

Ich hoffe ihr konntet einen Einblick in meine ersten Erlebnisse, Herausforderungen und Gedanken in Guadalajara gewinnen. Die vielen neuen Eindrücke, die sich aus meiner Sicht gut durch verschiedene Farben ausdrücken lassen, stellen in meinem Kopf noch ein kleines Chaos dar. Stellt euch ein buntes Kunstwerk vor, in dem alle möglichen Farben zusammengewürfelt sind. Nun habt ihr ein ganz gutes Bild davon was für ein Gedankenchaos aktuell in meinem Kopf herrscht. Doch das ist okay. Vielleicht geht es genau darum.

Auch Mexiko könnt ihr euch als buntes Kunstwerk vorstellen. Farben, Emotionen, Menschen, Leben. So habe ich dieses Land bisher kennengelernt. Es hat nicht alles immer eine Struktur, vieles ist sehr spontan, vieles ist zusammengewürfelt. Doch auch das ist okay. Denn auch wenn es aus deutscher Perspektive schwer erscheinen mag sich das vorzustellen: Es funktioniert. Man muss sich nur darauf einlassen.

Falls ihr bis hierhin gekommen seid: Danke für‘s Lesen!

Eure Sayen 🙂