Zwischen Hier und Dort

Noch 19 Tage.

Gerade sitze ich auf einer der vielen Sitzgelegenheiten auf dem Schulcampus, wie so oft in den letzten Monaten. Es ist Pause, ein ganz normaler Dienstagmorgen. Die Sonne scheint warm, Kinder lachen, es ist laut, lebendig, vertraut. Im Hintergrund spielen ein paar der Grundschulkinder Fußball, ältere Schüler:innen holen sich Frühstück am Kiosk, andere sitzen in Grüppchen zusammen, quatschen und lachen miteinander. Eine Atmosphäre voller Leben – ich genieße den Moment und sauge alles ganz bewusst auf. Nach über elf Monaten Freiwilligendienst fühlt sich dieser Ort so sehr nach Zuhause an. Und während ich hier sitze, merke ich, wie ich in Gedanken versinke – wie sich ein Gefühlschaos breitmacht. Der Abschied rückt näher und fühlt sich plötzlich viel realer an als all die Monate zuvor.
Zum einen ist da diese große Vorfreude: Familie wiedersehen, Freunde in den Arm nehmen, ein neuer Lebensabschnitt in Deutschland. Aber gleichzeitig wird auch mein Herz schwer beim Gedanken, dieses zweite Zuhause mit all seinen wunderbaren Menschen zu verlassen. Mir gehen viele Fragen durch den Kopf: Was bleibt, wenn ich gehe? Werden sich die Menschen an mich erinnern? Wie wird es sein, zurückzukehren – in eine Welt, die ganz anders funktioniert? Was nehme ich mit von hier?
Heute schreibe ich diesen Blogeintrag nicht, um Erlebnisse festzuhalten, sondern eher, um meine Gedanken ein wenig zu sortieren. Nach über elf Monaten Freiwilligendienst ist da so viel, das mir durch den Kopf geht – vieles, was sich schwer in Worte fassen lässt, aber versuchen möchte ich es dennoch…


Ein Gedanke, der in den letzten Wochen immer wieder auftaucht, ist die Vorfreude. Die Vorfreude auf Zuhause. Auf meine Familie, auf Freund:innen, auf Gespräche, die nicht über einen Bildschirm oder mit Zeitverschiebung geführt werden. Auf kleine Alltagsmomente, Lieblingsgerichte und darauf, Altvertrautes mit neuen Augen zu sehen. Auch wenn die Zeit wie im Flug vergangen ist, ist ein Jahr doch eine lange Zeit. In den letzten Monaten habe ich noch einmal ganz neu verstanden, wie wichtig mir die Menschen aus meiner Heimat sind und wie viel sie mir bedeuten. Dass ich so viele Erfahrungen hier machen durfte, hängt auch mit der Rückendeckung zusammen, die ich aus Deutschland gespürt habe. Und gerade weil ich so weit weg war, habe ich noch einmal ganz neu schätzen gelernt, wie wertvoll meine „Lieblingsmenschen“ sind. Wie viel es bedeutet, sie um sich zu haben – sowohl in wunderbaren als auch in herausfordernden Momenten. Manche Kontakte sind in diesem Jahr enger geworden, andere vielleicht leiser – aber alle haben mir gezeigt, wie wichtig Nähe, Vertrauen und gegenseitige Unterstützung wirklich sind.
Mit meiner Rückkehr beginnt auch ein ganz neuer Lebensabschnitt. Neue Wege, neue Entscheidungen, ein Alltag, der sich schon irgendwie verändert anfühlt, noch bevor er überhaupt angefangen hat. Ich bin gespannt, wohin mich das Leben führt. Und ich hoffe, dass ich vieles von dem, was ich hier erleben durfte, mitnehmen kann – in mein Denken, mein Handeln, meine Haltung und in das, was vor mir liegt.

Dann ist da der Abschied in meinen Gedanken. Er kommt näher – spürbar, greifbar. Je weniger Tage bleiben, desto öfter frage ich mich: Was bleibt, wenn ich gehe? Was bleibt von einem Jahr, in dem ich so viel erlebt, so viel gelernt, so viel gegeben habe? Habe ich Spuren hinterlassen? Ich stelle mir diese Fragen nicht aus einem Bedürfnis nach Anerkennung, sondern eher aus echter Verbundenheit zu den Menschen und dem Ort hier.
Ich weiß, dass ich die Welt hier nicht verändert habe – und das war auch nie mein Anspruch. Aber vielleicht liegt genau darin der Kern: Es geht nicht darum, alles zu verändern, sondern etwas zu bewegen. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die zählen: ein Gespräch, ein Lächeln, ein Moment der Aufmerksamkeit, ein Stück Vertrauen. Ich glaube, dass Beziehungen die stärkste Form von Wirkung sind – und Beziehungen habe ich hier viele aufgebaut. Ich merke, wie sehr mir dieser Ort und die Menschen hier ans Herz gewachsen sind. Die Kinder, die Jugendlichen, die Lehrer:innen – so viele Gesichter, Begegnungen, Gespräche. Ich war hier nicht nur als Unterstützung tätig – ich bin Teil geworden. Teil des Alltags, Teil der Gemeinschaft. Und gerade weil mir der Abschied so schwerfällt, zeigt mir das, wie tief die Verbindung geworden ist.
Vielleicht erinnert sich in ein paar Monaten ein Kind ja an ein Fußballspiel mit mir – an einen dieser Nachmittage, an denen ich mit den kleinen Jungs dem Ball hinterhergerannt bin, als gäbe es nichts Wichtigeres. Vielleicht denkt ein:e Jugendliche:r beim Englischlernen an eine Erklärung von mir zurück oder an eines der Gespräche in der Mittagspause, wenn wir zusammensaßen und einfach über das Leben geredet haben. Vielleicht erinnert sich eines der kleinen Mädchen daran, wie wir zusammen Klatschspiele gespielt oder uns gegenseitig die Haare geflochten haben. Vielleicht bleibt in der Schule ein kleines bisschen von der Energie, die ich mitgebracht habe, meiner Präsenz, meines Daseins. Und vielleicht ist das genug. Vielleicht ist es genau das, was am Ende zählt.

Je näher der Abschied rückt, desto öfter frage ich mich auch, wie es sein wird, wieder in Deutschland zu sein. Zurück in einer Welt, die ganz anders funktioniert – schneller, lauter, voller Möglichkeiten. Voller Konsum. Wie werde ich mit vielem umgehen, das mir früher ganz selbstverständlich vorkam? Mit der Leichtigkeit, mit der wir oft besitzen, ersetzen, wegwerfen?
Ich habe hier gelernt, dass „weniger“ oft mehr Nähe, mehr Wertschätzung, mehr Kreativität bedeutet. Wie selbstverständlich Dinge geteilt, repariert oder weiterverwendet werden – nicht immer, weil es keine andere Wahl gibt, sondern weil es zur Haltung gehört. Man kann so viel aus dem machen, was man hat.
Gleichzeitig habe ich auch viel über Privilegien nachgedacht – und darüber, wie sehr der Ort, an dem man geboren wird, über so vieles im Leben entscheidet. Ich bin aufgewachsen mit vielem, das für mich lange ganz selbstverständlich war: Zugang zu Bildung, medizinische Versorgung, soziale Sicherheit, Meinungsfreiheit.
Hier habe ich Kinder erlebt, die mit wenig materiellen Mitteln aufwachsen, aber mit einer Lebensfreude, Herzlichkeit und Offenheit, die mich tief berührt hat. Ich habe Familien kennengelernt, die mit Herausforderungen leben, die in meiner Lebensrealität in Deutschland kaum vorstellbar sind. Und dennoch habe ich gespürt, dass Armut oft von außen definiert wird, ohne das ganze Bild zu kennen. Denn meist wird Armut rein materiell verstanden – als das Fehlen von Besitz, Geld oder Konsummöglichkeiten. Doch das greift zu kurz. Armut bedeutet oft auch, keinen verlässlichen Zugang zu Bildung, zu sozialer Teilhabe oder politischer Mitbestimmung zu haben. Es geht um Strukturen, nicht nur um Besitz. Um das Fehlen von Möglichkeiten, um das Leben selbst zu gestalten. Gleichzeitig habe ich aber erlebt, dass auch dort, wo vieles fehlt, unglaublich viel da ist: Wärme, Lebensfreude, Zusammenhalt, Kreativität. Eine Form von Reichtum, die sich nicht in Zahlen messen lässt.
Ich weiß, dass ich mir nicht vormachen darf, zuhause plötzlich komplett anders zu leben. Aber ich hoffe, dass ich mir ein neues Bewusstsein bewahren kann. Ein Bewusstsein für das, was ich habe. Für das, was ich wirklich brauche. Und dafür, wie ich meine Möglichkeiten nutzen kann.

Dieser Blogeintrag war wirklich ein wilder Mix aus Gedanken – ehrlich, ungeordnet, vielleicht manchmal widersprüchlich. Aber genau so fühlt es sich gerade an. Und vielleicht ist es sogar gut, dass ich nicht alles in Schwarz und Weiß einteile. Dass ich meine Rückkehr nicht nur als „gut“ oder „schlecht“ sehen muss und auch mein Jahr hier nicht auf eine klare Bilanz reduziere.
Es war intensiv, bunt, herausfordernd, bereichernd – und alles dazwischen.
Ich werde die letzte Zeit hier noch ganz bewusst genießen. Jeden Moment, jede Begegnung, jede kleine Alltäglichkeit, die bald keine mehr sein wird. Und all das, was ich in diesen vielen Monaten erleben, lernen und fühlen durfte, werde ich in meinem Herzen mitnehmen.
Ein letzter Blogeintrag wird noch folgen – irgendwann, wenn der Abschied wirklich da ist. Wenn aus „bald“ ein „jetzt“ geworden ist…


Bis dann!
Ida