La Normalidad
Einhunderteins Tage bin ich nun schon hier in Cajamarca. Mehr als drei Monate kenne ich diese wunderschöne Stadt inzwischen – und noch immer gibt es so vieles Unbekanntes, so vieles zu entdecken und zu lernen.
Doch langsam beginnt auch die Zeit zu rasen. Jeden Tag mehr und mehr, immer schneller und schneller. So richtig mag ich nicht realisieren, dass meine Zeit hier begrenzt ist. Das bei vierundzwanzig Grad und Sonnenschein zu schreiben, während in Deutschland schon Winterjacken und Tannenbaumdekoration ausgekramt werden. Ein seltsames Gefühl. Und so wirklich meine ich gar nicht mehr zu wissen, was ich schreiben soll. Alles ist so normal, in meinen Augen so unspektakulär. Vielleicht ist es aber auch genau das, über was ich berichten kann – meine Normalität.
Anfang einer Woche. Montags bis Samstags unterstütze ich bei MICANTO, meiner Einsatzstelle. Start ist morgens um neun Uhr, manchmal auch etwas früher. Je nachdem was Programm ist. Meine Aufgaben sind vielseitig: Internetseite und Onlinekanäle bespielen, bei Englischaufgaben helfen, neue Aktivitäten für die Kids planen, Glitzerbuchstaben ausschneiden, ab und zu Einkaufen gehen, Fotos machen. An manchen Tagen haben wir große Events im Haus, wo die rund einhundertfünfzig weißen und weinroten Monoblocs das Auditorium füllen. Langweilig wird es hier nicht, immer ist etwas los.
Mittags habe ich dann zwei Stunden Pause, da laufe ich unter angenehm warmer Mittagssonne zurück in meine Unterkunft. Auf dem Weg esse ich oft etwas in einem kleinen Restaurant am Straßenrand, mit bunt bemaltem Schiefertafelaufsteller vor der Tür. Darauf stehen die tagesaktuellen Gerichte, immer mit Suppe und Reis und Fleisch. Habe ich Lust auf etwas anderes, gehe ich wenige Meter von meiner Haustür entfernt auf den Markt und besorge mir eine bunte Mischung aus Früchten. Erdbeeren, Mangos, Kaktusfrüchte, Weintrauben. Manchmal auch ganz außergewöhnliches, wie die Chirimoya – eine Geschmacksmischung aus Banane, Ananas und Vanille. So vieles gibt es in den farbenfrohen Fruchtbergen zu entdecken, und noch lange nicht habe ich alles probieren können. Zum Glück bleibt mir dafür noch Zeit.
Dieser Markt in meiner Straße, der „Mercado San Sebastián“, ist eine eigene Welt für sich. Schon auf dem Weg dorthin sitzen unzählige Verkäuferinnen dicht aneinandergereiht. Zwiebeln, Tomaten und Kräuter türmen sich neben Ananas, Äpfeln und Papayas. Unter dem Dach der großen Markthalle ordnet sich dann alles in eigene Abteile. Links gibt es Schwein und Huhn zu kaufen, in der Mitte kleine Stände mit warmen Gerichten oder Fruchtsäften. Weiter rechts den Bereich für Fisch, Kartoffeln und anderes Gemüse. Nach einem kleinen Streifzug durch die engen Gänge findet man Brot, Gewürze, Haushaltsartikel und Früchte. Kommt man häufiger hierher, hat man schnell seine festen Verkaufsstände gefunden und kennt sich bald auch schon beim Namen.
Die etwa siebzigjährige Brotverkäuferin, die von morgens bis abends umringt von Brotbergen in einem einem kleinen Seitengang steht. Meine Avocadoverkäuferin, die auf einem grünen Eimer inmitten der vorbeilaufenden Menschenmengen sitzt und sich stets köstlich mit ihren Freundinnen über meinen Besuch amüsiert. Eine der vielen Mangoverkäuferinnen auf der Eingangstreppe zum Markt. Oder mein Erdbeerverkäufer, der sich mit einer kleinen Plastiktüte Wechselgeld unter einem Sonnenschirm aufhält und mich beim Vorbeikommen herruft. Alles so fremd und doch so persönlich. Ich mag das.
Nachmittags geht es um drei Uhr weiter, immer bis achtzehn oder neunzehn Uhr. Drei Mal in der Woche haben wir Nachhilfegruppen im Haus, bei denen Kinder von ganz klein bis mittelgroß Hilfe bei ihren Schulaufgaben bekommen. Besonders süß: die Begrüßung, wenn die Kleinen durch die Tür stürmen. „Profe Miguel, buenas tardes!“ schallt es dann in meine Richtung, oft gefolgt von einer Umarmung. „Ich habe Englischaufgaben, hast du Zeit?“ werde ich dann oft gefragt und versuche mich im Erklärungsmix beider Sprachen. Wenn die Sonne untergeht, bin ich meistens gerade auf dem Heimweg. In Deutschland ist um die Zeit dann schon Mitternacht. Auf dem Weg laufe ich vorbei am großen Friedhof, vorbei an den Blumenverkäuferinnen, zwischen vorbeiziehenden Mototoritos durch die Straßen. Abendessen, ab und an ein kleiner Spaziergang, mit anderen Freiwilligen im Mondschein auf der Terrasse sitzen und quatschen. Unspektakulär wie entspannend.
Wo vieles Alltag ist, gibt es doch immer mal ganz besondere Tage und Momente. Vieles, was sich mir erst mit Blick auf die letzten Wochen wirklich offenbart. Ein paar Eindrücke:
Día de la Niña
Einer davon war der „Día de la Niña”, der Weltmädchentag. Ein Tag, der das Bewusstsein für die Rechte von Mädchen stärken und auf die noch immer bestehende Chancenungleichheit aufmerksam machen soll. In einer Welt voller Ungerechtigkeiten und Herausforderungen ein wichtiges Zeichen, zugleich aber auch ein nachdenklich machendes. Auf diesen Samstag hatten wir lange hingearbeitet: Einhundert Papierblumen gebastelt und verziert, Bilder aller Mädchen mit Sprüchen versehen und in Papprahmen geklebt, viel viel Dekoration im ganzen Haus. Rundherum ein großes Programm aus Tänzen und Aufführungen, Wettbewerben, Liedern und anderen Aktivitäten. Ein von Spaß, Freude und Miteinander erfüllter Tag. Einer, der vielen dieser Kinder noch lange in Erinnerung bleiben wird. Genauso wie mir.
Derechos de los Niños
Vor einigen Tagen war der „Día de los Derechos de los Niños“, übersetzt: Tag der Kinderrechte. Ein ebenso großes Programm mit viel Vorbereitung im Hause MICANTO. Eine Show für die Kleinen, ein Theaterstück für die Mittleren, ein Diskussionspanel für die Großen. Ich durfte im Theaterstück den Priester spielen, beim Ansingen von Liedern habe ich aber noch ein bisschen zu üben.
Die Botschaft dieses Tages: Kinder haben Rechte. Das Recht auf Leben, auf Identität, auf Sicherheit, das Recht in einer Familie zu leben. Dinge, die man in Europa als selbstverständlich zu verstehen meint, die es aber nicht überall sind. Bei alledem aber viel wichtiger: Ein Bewusstsein über dieses Thema in Gemeinschaft und Freude verpacken zu können. Das macht MICANTO aus.
Bald ist ja schon der erste Advent, fällt mir gerade so ein.
Hier ist noch nicht viel davon zu spüren. Bisher nur das imposante Angebot an Weihnachtsdekoration in einzelnen Läden, das von kleinen Jesusfiguren bis zu bunten Glitzergirlanden reicht. Ein wenig seltsam, irgendwie aber auch idyllisch. Normalität ist ein seltsames Wort, wo es doch vielen in Deutschland scheint, als lebe ich hier ein ganz anderes Leben. Ist es vielleicht auch. Für mich fühlt es sich aber mittlerweile wie ein ganz Normales an.
Gerade blicke ich wieder in die Berge hinein. Im Hintergrund hämmert irgendjemand etwas zusammen, ansonsten streift nur ein leichter Wind durch die Sträucher unter meinem Dach. Hier fange ich an, das Leben leichter zu leben. Bis zur nächsten Geschichte.