Hahnengeschrei

Sehr passend war, dass im März die offiziellen pädagogischen Aktivitäten wieder aufgenommen wurden. Der Plan dafür war, die bereits bestehende Escuela de Rap in eine Escuela de HipHop zu erweitern. Dazu gehört, dass wir als Projekt DJ-Klassen, Breakdance Stunden, Graffiti Unterricht und natürlich Rap-Klassen anbieten.

Der erste Schritt für so ein großes Projekt war, mehr Mädchen für unsere Prozesse zu begeistern.

Dafür machten wir Convocatoria, was bedeutete, dass wir in verschiedenen Schulen von Klasse zu Klasse gingen, uns und unser Vorhaben vorstellten und dann Listen herumgaben, in welchen die interessierten Mädchen ihre Daten notieren konnten.

Nach zwei Schulen und langen Tagen hatten wir bereits die Daten von über 500 Mädchen gesammelt.

Die Erfahrung dieser Tage war sehr intensiv. Wenn wir durch die Klassen gingen und in jedem Klassenzimmer circa fünf Minuten das Projekt vorstellten, kam früher oder später die Frage auf woher ich komme. Nachdem ich „Deutschland“ sagte, fragten mich manche Kinder ob ein ein Nazi oder eine Faschistin bin, im Krieg war oder Hitler mag.

Alle Lehrer und Schüler begegneten mir mit großem Interesse. Auch da das Leben der Kinder und Jugendlichen sich größtenteils nur in ihrer Nachbarschaft abspielt, waren sie begeistert, eine Ausländerin zu treffen, mit der sie reden konnten.

Als wir die Tage an den Schulen abgeschlossen hatten und nun die ganzen Daten der Mädchen vorlagen, begann die administrative Arbeit, war für mich bedeutete, circa 300 Mütter und Väter auf WhatsApp zu kontaktieren und zu fragen ob ihre Tochter an unseren Aktivitäten teilnehmen darf. In zwei der Schulen wurde uns auch ein Saal zugesagt, in welchem wir unsere wöchentlichen Treffen abhalten konnten.

Wirklich los ging es dann Anfang Mai in einer Schule in dem Viertel “Manrique”.

Der Direktor hatte uns davor einige sehr harte Geschichten über die Präsenz von bewaffneten Gruppen, Fällen von verschwunden Personen und die Auswirkungen dessen auf die Jugendlichen berichtet. Diese zeigen sich in vielen körperlichen Auseinandersetzungen unter den Jugendlichen auf dem Pausenhof. Bei den Mädchen seien „an den Haaren der anderen ziehen“ und sich mit der flachen Hand schlagen besonders beliebt. Gründe dafür waren oftmals Eifersucht oder der Kampf um einen Jungen.

Er erzählte uns auch, dass sie bereits gesehen haben, wie wirksam aufklärende Kampagnen sein können. In den vergangen Jahren wurde eine Kampagne zu Verhütung und Teenie-Schwangerschaften durchgeführt, was dazu führte, dass in dem folgenden Jahr nur noch ein Mädchen an der Schule schwanger war. In den vorherigen Jahren waren es immer circa zehn.

Die Kurse fanden nun drei mal pro Woche in zwei unterschiedlichen Schulen statt und die Planung, Durchführung und Administration dieser wurde mit den Englisch-Klassen im Projekt zu meiner Hauptaufgabe. Ein großer Teil meiner Aufgabe bestand auch in der Kommunikation mit den Eltern, sei es, um über ausgefallene Stunden zu informieren, Fragen zu beantworten oder Bedenken auszuräumen.

Viele Elternteile können mit dem Namen der Organisation erstmal wenig anfangen. Nicht selten waren sie feministischen Bewegungen gegenüber kritisch eingestellt. Eine Mitarbeiterin erklärte mir, dass in vielen Bezirken immer noch ein großer Aberglaube herrscht. Mischt sich dieser mit Misogynie entstehen „Regeln”, wie beispielsweise diese: Wenn Frauen ihre Menstruation haben gelten sie als „unrein“, so dürfen sie keine Babys in dieser Zeit auf dem Arm tragen, da sie ihre Unreinheit und dunkle Energie auf die Babys übertragen könnten. Ebenso wenig sollten sie in dieser Zeit das Essen mit einem Kochlöffel umrühren, da sie so mit ihrer Schmutzigkeit das Essen verderben.

In den Stunden lernten die Mädchen wie man Texte schreibt, rappt und singt. Sie komponierten die Texte sowohl auf Spanisch als auch auf Englisch, wobei ich für den englischen Teil zuständig war. Zusätzlich führten wir gelegentlich feministisch Workshops zu Themen wie Menstruation, Selbstliebe, Beziehung und Selbstbestimmung durch.

Um die Liedtexte zu komponieren gaben wir anfangs zwei oder drei „Key-Words“ vor, beispielsweise Stereotypen und Selbstliebe. Mehr nicht, denn die Mädchen sollten wirklich frei ihre eigenen Texte schreiben, wobei die zwei Wörter nur als Ideen-Anstoß funktionierten. Immer wieder brachten mich die daraus entstehen Zeilen zum Nachdenken. Die Mädchen schrieben darüber, wie ihnen auf der Straße hinterhergerufen wird, wie sie von der Regierung übersehen werden, wie sie es leid sind, immer einem Schönheitsideal zu entsprechen oder welche Karrieren sie anstreben. Es brauchte nicht viel und schon zeigte sich, wie jedes dieser Mädchen bereits in jungen Jahre  Erfahrungen mit Sexismus gemacht hatte.

Besonders bewegte mich auch, wie sie mit der Zeit an Selbstvertrauen auf der Bühne und beim Rappen gewannen. Anfangs empfanden sie es noch als lästig zum Rappen aufstehen zu müssen, zwei Monate später kamen sie in die Klassen mit Tanz-Choreos, Stiften als Mikrofone und mit auswendig gelerntem Text.

Die Mitarbeiterin Tatiana unterstützt beim Texte komponieren
Mädchen beim schreiben ihrer Liedtexte

In dem Projekt liefen meine Klassen derzeit normal weiter. Eine Sache hatte sich jedoch geändert. Eines der Mädchen, das normalerweise sehr offen, interessiert und aufgeweckt war, zog sich immer weiter zurück. Daher entschied ich mich nach einer Unterrichtsstunde das Gespräch zu ihr zu suchen. Schnell blockte sie ab und meinte sie sei einfach sehr müde in der letzten Zeit. Als ich ihr dann jedoch erklärte, dass es eine Psychologin im Projekt gibt, mit der sie sprechen könnte, willigte sie direkt ein. In der nächsten Woche hatten die beiden so ihre erste Sitzung miteinander, nach welcher fest stand, dass sie damit ab jetzt einmal pro Woche fortfahren werden.

Die Psychologin erzählte mir, dass sich die Situation des Mädchens zuhause extrem verschlechtert hatte, dass Vater sowie Stiefvater gewalttätig seien und sie sich daher sich in einer depressiven Phase befände.

Ich war sehr glücklich zu wissen, dass sie nun professionell betreut wird und es zeigte mir die Wichtigkeit von meinen Englisch-Stunden. Noch viel wichtiger, als Englisch zu lernen, war nämlich, dass die Mädchen ins Projekt kommen, dort sich austauschen und falls benötigt auch Hilfe bekommen.

Als meine letzten Wochen in Medellin immer überschaubarer wurden und ich fasst schon das Ende sah, wurde ich sehr traurig. Ich erinnerte mich noch gut, wie ich in meinem Kalender nichts ahnend vorausschauend zur nächsten Woche blätterte und ich dort „RÜCKFLUG” las. Der erste Gedanke war „warum genau jetzt, wo alles endlich so gut läuft” und der zweite war „schön, dass ich in Ruhe gehen kann”.

Was ich damit meine ist, dass ich wusste, dass ich meine Klassen regulär zu Ende bringen werde, dann genügend Zeit haben werde um mich zu verabschieden und nach meiner Rückkehr einige der Projekte, bei denen ich beim Aufbau mit dabei sein durfte, super weiter laufen werden.

Pädagogischer Ausflug zu dem Museum „Haus der Geschichte“
Pädagogischer Ausflug zu einem Aussichtspunkt im Norden der Stadt

Das ist wahrscheinlich das schöne und unschöne daran Freiwillige zu sein: du weißt du wirst gebraucht, manchmal mehr und manchmal weniger, du bist aber auch entbehrlich. Einige Projekte für die du wirklich viel gegeben hast werden weiter laufen, andere jedoch werden nicht übernommen, für manche wirst du vielleicht eine Inspiration gewesen sein, andere vergessen dich schnell.

Den Abschied von verschiedenen Personen teilte ich geschickt auf, damit es nicht zu traurig wurde. Erst kamen die Mädchen der einen Schule, dann ein paar Freunde, dann meine Klasse im Projekt, dann die andere Schule und so weiter.

Besonders schön war der Abschied von den Mitarbeiterinnen. Schön nicht im Sinne von, dass ich froh bin, sie endlich los zu haben, sondern, dass wir die unsere gemeinsame Zeit zelebrierten, wir viel lachten und sie mir schöne Worte mit auf den Weg gaben.

Vor allem, was eine Mitarbeiterin zu mir sagte, bewegte mich: „Nika, es ist wichtig und toll, dass die Mädchen an dir sehen, dass man seinen eigenen Weg gehen muss. Eine Zeit ist man hier, eine andere dort, aber man darf an einzelnen Lebensabschnitten nicht festhalten. Sie sehen jetzt, dass ihre Tutorin zurück in ihr Heimatland geht, um dort zu studieren, weil sie ihre Arbeit hier getan hat. Veränderungen sind immer etwas Gutes, Nika”.

Als Freiwillige ist das einer der tollsten Sätze, die ich hören durfte und auch einer der Sätze, die die Sinnhaftigkeit und Wichtigkeit von Freiwilligendiensten auf der ganzen Welt unterstreicht.

Ende Juli schloss ich die Tür meines Zimmers in Medellin ein letztes Mal hinter mir und öffnete circa 20h später die Tür meines Kinderzimmers in Freiburg. In der ersten Nacht fühlte sich dieses so gar nicht nach zuhause an. Die Weite, das Saubere und Weiße und die Stille fühlten sich plötzlich beklemmend an. Auch eine Woche später wachte ich immer noch auf und dachte, ich wäre noch in Medellin.

Die ersten Tage in Freiburg fühlten sich an wie ein Spagat zwischen dem Gefühl überglücklich zu sein, da man endlich wieder zwischen Freunden und Familie ist und sich hier ja irgendwie nichts verändert hat und zwischen dem Gefühl von Leere und Unzufriedenheit, da irgendetwas fehlt.

Ich weiß letztendlich nicht, ob es die verschmutzte Luft im Zentrum Medellins, die dröhnende Salsa-Musik, von der man sonntags auch nicht verschont blieb, die überfüllte Metro, in der ich mich oft nicht einen Zentimeter bewegen konnte und wenn ich Pech hatte, mich daher an meiner Station nicht rechtzeitig zwischen den Menschen herausdrücken konnte, das darauf folgende Lachen und die witzigen Sprüche, der Begrüßungs-Schrei einer Mitarbeiterin sobald ich mein Kopf durch die Tür des Büros steckte, die zu festen Umarmungen der Mädchen, die trockenen Frühstücks-Arepas oder die (jeden Tag) gleichen Mittagessen, das Strahlen des Verkäufers um die Ecke mit dem darauf folgenden Satz: „Unsere Deutsche ist wieder da! Wie ist es dir ergangen, mein Kind?”, die Stunden in Parks mit Freunden, da oft Geld für andere Unternehmungen fehlte oder die unzähligen Nachmittage im Café mit Mitarbeiterinnen des Projekts, die schnell zu Nächten wurden.

Nur eines blieb gleich: die morgendlichen Schreie eines Hahnes die mich sowohl in dem Plattenbau mitten in Medellin, als auch in dem Einfamilienhaus in Zarten wecken.

Als Abschluss möchte ich einen Dank aussprechen, dafür, dass mir die einmalige Chance gegeben wurde, elf Monate in eine andere Welt einzutauchen, mich weiterzubilden, viel zu geben aber noch mehr zu empfangen, zu hinterfragen und zu akzeptieren, gefordert zu werden und mich in elf Monaten so viel zu entwickeln wie kaum vorstellbar.

Danke an die Sternsinger, Red Feminista Antimilitarista und an alle, die meinen Freiwilligendienst möglich machen.

Gracias.

Nika