Halbzeit Auszeit
Mein Jahr 2023 hat sehr besonders begonnen, da ich die nächsten zwei Wochen frei hatte.
Bereits letztes Jahr hatte mich meine Chefin darüber informiert, dass in der Zeit von Mitte Dezember bis Mitte Januar, das Projekt geschlossen sein wird und ich in dieser Zeit gerne verreisen könnte, wenn ich möchte. Grund dafür sind die großen Ferien in Kolumbien. Eine ihrer Empfehlungen war Santa Marta, welche neben Cartagena oder Baranquilla eine der touristischsten Städte der Karibikküste Kolumbiens ist.
Santa Marta hat ein malerisches historisches Stadtzentrum mit Restaurants, Bars und kleinen Läden. Vormittags ist es angenehm ruhig, was ich als Kontrast zu Medellin als sehr wohltuend empfand. Dort angekommen, merkten wir direkt das ganz andere Klima, mit dessen auch abends drückender Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit.
Nach einigen Tagen dort entschieden wir für ein paar Tagesausflüge in nahegelegenen Dörfer und Parks.
Unser erster sollte nach Palomino, ein kleines Dort circa 2h östlich von Santa Marta, gehen. Die Anreise hätte einfacher nicht sein können, da dieser Teil der Karibikküste mit wirklich ausgezeichneten Busverbindungen ausgestattet ist. Mit viel Glück bekamen wir die zwei Plätze direkt neben dem Busfahrer, was uns eine super Sicht auf die vorbeiziehenden Dörfer, dichten Wälder, Bananenplantagen und Flüsse. Zumindest erzählte mir das meine Freundin bei unserer Ankunft, da ich wie gewohnt die ganze Zeit geschlafen hatte.
Die Wege waren staubig, hügelig und vor allem löchrig, weshalb wir immer wieder besorgt zusahen, wie Motorräder diese etwas zu schnell überquerten und die Reifen kurz den Boden verließen.
Nach circa 20 Minuten Fußweg erreichten wir den Strand, welcher dem entspricht, was sich wahrscheinlich die meinsten Menschen unter karibischen Stränden vorstellen: feiner, heller und warmer Sand, türkisblaues, sehr salziges Wasser, das nicht selten gewaltig hohe Wellen schlägt, Palmen und Sträucher, die etwas Schatten und Kühle neben der brennenden Hitze baten.
Uns erschien es fast so als wäre eine große Gruppe Menschen hier einmal als Tourist hergekommen, haben aber den Ort seit dem nie mehr verlassen. Durchgehend hörten wir leise im Hintergrund entspannte Gitarrenmusik, uns wurden vegane, selber gemachte Sandwiches mit Linsen-Protein oder vegane Kakao-Trüffel-Schokopralinen von Strandverkäufer*innen angeboten und wir entdeckten sogar einige Traumfänger und Hängematten zwischen den Palmen.
Kurz bevor wir den Strand verließen, bat sich uns jedoch ein skurriles Bild: circa zehn schwer bewaffnete und in hellen Tarnfarben gekleideten Soldaten räumten den gesamten Strand. Wir wunderten uns sehr und bekamen ein mulmiges Gefühl, auch weil die Soldaten rein gar nicht zu dem restlichen Bild und Gefühl Palominos passten. Später hörten wir verschiedene Varianten, warum es dazu kam. Eine davon war, dass in der vorherigen Woche zwei Menschen im Meer ertranken; sicher sind wir uns bei dem Ganzen jedoch nicht.
Sicher ist allerdings, dass Palomino vor allem in den 2000ern ein sehr gefährlicher Ort war. Wie in vielen kleinen Orten Kolumbiens versuchten sowohl paramilitärische Gruppen als auch die FARC, Kinder und Jugendliche für ihre Drogenkriege zu rekrutieren. Diese illegalen Aktivitäten werden seit mehreren Jahren konsequent vom Militär zurückgedrängt und teilsweise erfolgreich bekämpft. Auch dadurch konnten sich die wirtschaftlichen Einnahmequellen Palominos ab von Drogenschmuggel und Kokainanbau hin zum Ökotourismus wenden.
Unser zweites Ziel und ein absolutes Muss für Besucher der kolumbianischen Karibikküste ist der Nationalpark „Tayrona“.
Dieser Regenwald ist ein Naturschutzgebiet, circa eine Stunde mit dem Bus von Santa Marta entfernt, der für seine Küstenlagunen, Buchten, Artenvielfalt, Felsbänke und tollen Wanderwegen bekannt ist.
Der Name leitet sich von dem dort heimischen Volk „Tairona“ ab. Dieses hinterließ einige Ruinen im Inneren des Parks, wo man heutzutage die Tairona-Kultur in ihrer präkolonialen Epoche besichtigen kann.
Dafür standen wir bereits vor Sonnenaufgang auf, um – wie es sich für Deutsche gehört – vor der Öffnung des Parks bereits dort zu sein.
Die Wanderwege waren toll angelegt, führten an riesigen Steinblöcken, hohen Palmen und atemberaubenden Stränden vorbei. Besonders beeindruckend war es immer wieder Pflanzen zu sehen, die mit ihren Wurzeln die Steinblöcke gespalten hatten. So wanderten wir von Strand zu Strand, machten immer wieder eine kleine Pause um den Ausblick zu genießen und kamen letztlich an dem bekanntesten und auch letzten Strand unserer Route an: Cabo San Juan Del Guia.
Die Zeit an der Küste war wirklich sehr schön, von einer Sache wurde sie aber sehr gestört: catCalling. Die Thematik war mir aus Medellin und aus Deutschland nicht unbekannt, jedoch war ich wirklich schockiert wie viel aggressiver und penetranter das catCalling in den touristischen Städten war. Es verdeutlichte uns wieder, wie stark das öffentliche und ständige sexualisiert Werden ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung auslöst.
Auch deshalb freuten wir uns auf unser zweites Reiseziel: Nuqui an der Pazifikküste. Dies ist ein kleines Dorf, was wiederum in mehrere Küstendörfer aufgeteilt ist und im Departamento Chocó im Westen Kolumbiens liegt. In Nuqui leben auf eine Fläche von 956 Quadratkilometern, knapp 9.000 Einwohner, was einer Bevölkerungsdichte von 9 Ew./Quadratkilometer entspricht. Zum Vergleich: in Medellin sind es 6.864,6 Ew./Quadratkilometer.
Chocó zählt seit mehreren Jahren zu einer absoluten Krisenregion. Es gilt als ärmste Region Kolumbiens. Vorherrschende Probleme sind die Vernachlässigung der Region durch den Staat, Präsenz vieler bewaffneten Gruppen wie der Guerillas und des Paramilitärs sowie die schwache Umsetzung des mit ihnen geschlossene Friedenabkommens. Opfer der herrschenden Gewalt werden vor allem Jugendliche, Indigene und Afrokolumbianer*innen, die 4/5tel der Bevölkerung ausmachen. Zudem sind 88% der Bevölkerung Chocós Opfer von Vertreibung und Umsiedlungen als Folge des jahrelangen Bürgerkriegs in Kolumbien.
In Nuqui wird seit mehreren Jahren ein anderer Wirtschaftszweig gefördert: der Ökotourismus. Die Empfehlung nach Nuqui zu reisen, bekam ich von einer Mitarbeitenden des Projekts, da es eine beliebtes Reiseziel bei Kolumbianern und Kolumbianerinnen ist. Wir recherchierten einige Zeit, weil sich herausstellte, dass es gar nicht so einfach war Nuqui zu einreichen. Flüge gab es beispielsweise nur alle zwei Tage und waren größtenteils ausgebucht, da es genau 19 Sitzplätze in diesen gab.
Der Flughafen Nuquis glich dem Warteraum einer Arztpraxis und war somit perfekt für die Anzahl der ankommenden Menschen ausgelegt. Wir erkundigten uns vor Ort, wie wir von dem Flughafen weiter zu unserem Dort kämen und trafen auf einen sehr netten Angestellten, der uns quer durch den Ort zu dem Ablegepunkt der Boote, die in die einzelnen Dörfer fahren, brachte, welchen wir ohne sein Hilfe niemals gefunden hätten. Etwas besorgt war ich trotzdem, da wir weder eine Adresse unserer Unterkunft, noch Internet hatten, aber er uns zielsicher in eines der Boote setzte und uns eine gute Reise wünschte.
Es ging circa eine Stunde an der Küste entlang, die von unberührtem Regenwald gezeichnet war und in der anderen Richtung blickten wir auf den hellblauen, fast grauen Pazifik, dessen Weiten und Farben sich mit graublauen Horizont fasst kantenlos vermischte.
„Los Thermales“ besteht aus einem ungeteerten Weg, der parallel des Strandes entlangführt. Links und rechts dieser Staße bilden sich zwei Häuserreihen. Von dem einem bis zum anderen Ende braucht man circa 15 Minuten zu Fuß. Eine zweite Straße führte in das Innere des Ortes, nämlich zu den natürlichen Thermen, nach denen der Ort benannt ist. Zudem gab es zwei bis drei Restaurants (wir sind uns bis heute nicht ganz sicher), eine Bäckerei, eine Grundschule, zwei kleine Läden und ein Fußballplatz. Da wir eine Gemeinschaftsküche hatten, machten wir uns auf den Weg zu dem Gemüseladen, der gerade nur Zwiebeln und Kartoffeln hatte. Obst und Gemüse käme erst Ende der Woche wieder an.
Wir hatten eine schöne Zeit dort, doch kamen uns auch viele Fragen in den Sinn: Wie wäre es hier zu wohnen? Manchmal erhaschten wir einen Blick in offenstehende Häuser und sahen die wirklich extrem prekären Wohnsituationen. Was passiert, wenn man hier schlimm krank wird? In dem Ort gab es keine Apotheke und die nächstgelegenen Dörfer waren bestimmt 30 Minuten mit dem Boot entfernt…das nächste Krankenhaus vielleicht in Nuqui? Wie sehen die Zukunftsperspektiven für jungen Menschen hier aus?
Einer der Jungs, welcher sich auch um den Eintritt in die Therme kümmerte, hatte uns nach unserer Herkunft gefragt. Als wir Deutschland antworteten und seine kleine Schwester neben ihm verwundert fragte wo das denn läge, erzählte er ihr direkt von dem WM-Finale 2014 Deutschland vs. Argentinien und dem legendären 1:0 von Mario Götze in der 113. Minute.
Als wir an einem anderen Tag am Strand saßen, kam er, um mit anderen Mädchen und Jungs am Strand Fußball zu spielen. Wir redeten ein bisschen und schnell kamen immer mehr Jugendliche und setzten sich zu uns. Vorsichtig fragten wir alles, was uns interessierte und redeten dazwischen immer wieder über den BVB, Bayern München, den FCB oder PSG. Sie erzählten uns, dass sie auf die Schule in einem Nachbarsdorf gehen oder auf die Universität in Quibdo. Auch erzählten sie, dass sie ihren Eltern bei deren Arbeiten helfen würden. Viele haben zwar keine Ausbildung, aber das brauche man hier auch nicht, da man sich alles selbst beibringt. Ein Jugendlicher erzählte, dass er die Chance hätte mit seiner leiblichen Mutter in Bogota zu wohen, aber das nicht wollte, weil es ihm hier besser gefällt. Ein anderer berichtete, dass er in einem anderen Dorf aufgewachsen ist, aber hier hin zog, da es mehr Arbeit gäbe und es ihm hier generell besser gefalle. Als ich sie danach fragte, was sie später einmal werden möchten, lautete die Antwort (wie erwartet): „Fußballprofi“. Auch fragte ich sie, was sie darüber denken, dass hier inzwischen mehr Touristen hinkommen. Sie antworteten, dass sie das toll fänden, da das immer coole Leute seien und es so mehr Arbeit gäbe. In ihrer Freizeit treiben sie eigentlich immer Sport und am Wochenende treffen sie sich vor einem Laden um zu trinken. Manchmal gehen sie dann danach in die Therme, dort sei es nachts am coolsten.
Am Tag unserer Abreise verabschiedeten wir uns und machten uns mit uns mit Gepäck auf den Weg zum Strand, wo uns ein Boot morgens wieder zum Flughafen bringen würde.
Auf der Fahrt fing es an zu regnen, weshalb Planen ausgepackt wurden und wir uns aneinander kuschelten, um nicht ganz nass zu werden. Dieses Bemühen scheiterte jedoch endgültig, als wir an dem zweiten Strand „anlegten”. Während einer der Männer mit dem Bambusstab versuche das Boot so nah wie möglich an den Strand zu navigieren, schwappten mehrere Wellen in das Boot und somit auch über uns, unsere Rucksäcke und unsere Koffer. Zum Glück hatten wir wegen des vorangeganen Regens bereits unsere wichtigsten Gegenstände in Sicherheit gebracht; dennoch waren wir jetzt klitsch nass. Das machte auf dem Boot jedoch keineswegs schlechte Stimmung, immer wieder wurde gescherzt und darüber geredet, was für eine tolle Erfahrung es doch immer sei mit dem Boot zu fahren. Bei jeder weiteren kleinen Welle wurde versucht lachend auszuweichen.
Nuqui war auf ganz verschiedenen Ebenen eine einmalige Reiseerfahrung.
Die zwei Wochen Urlaub standen in starkem Kontrast zu meiner bisherigen Zeit hier. Ich hatte die Chance viele neue Seiten Kolumbiens kennenzulernen, sowohl was Fauna und Flora angeht, also auch Kultur, Essen und Sprache. Dabei habe ich nicht vergessen, dass der Mädchen, mit denen ich arbeite, und deren Familien, all diese Orte ihres eigenen Landes noch nicht sehen konnten. Entweder, weil es keine Zeit für Urlaub gibt oder, da das Geld fehlt. Oftmals trifft beides zu.
Die Möglichkeit, während eines Freiwilligendienstes auch Touristin sein zu können, ist ebenfalls nicht selbstverständlich. Ich konnte diesen Urlaub machen, da meine Chefin und viele Mitarbeiterinnen des Projektes mir deutlich machten, dass dies kein schlechtes Licht auf mich als deutsche und somit privilegierte Freiwillige werfen würde und natürlich, da ich mir das leisten konnte, was alles andere als selbstverständlich ist.
Mein Bericht über meine freie Zeit, wenn die Mädchen mich danach fragten, sah daher sehr anders aus, als in diesem Blog Beitrag. Dennoch entschied ich mich dafür von meiner Reise zu berichten, da ich über Kolumbien neben seiner sehr Konflikt- reichen Vergangenheit und Gegenwart, auch als Land mit reicher Natur und Kultur erzählen möchte, die ich besonderer Weise kennenlernen durfte.
Von meinen Erfahrungen auf dem Zwischenseminar sowie Veränderungen in Medellin werde ich euch in meinem nächsten Blog Beitrag berichten.
Ich hoffe, ihr hattet Freunde beim Lesen dieses etwas anderen Berichts und wir sehen uns hier bald wieder.
Nika