George in zwei Welten

 

In meinen ersten Wochen in George habe ich unterbewusst die ganze Zeit auf eine Sache gewartet. Stundenlang waren wir in Aachen bei den FIJ-Seminaren darauf vorbereitet worden und hatten immer wieder gesagt bekommen, dass er ein normaler Teil des Freiwilligendienstes sei, der einfach dazugehöre:

Der Kulturschock.

Irgendwie wartete ich die ganze Zeit auf eine Art Schockmoment, in dem ich mich mit der Andersheit der Kultur richtig überfordert fühlen würde: Bei meiner Ankunft am Flughafen, an meinem ersten Tag bei meiner Einsatzstelle Bethesda, beim ersten richtigen Aufeinandertreffen mit gleichaltrigen Südafrikaner*innen, beim ersten Supermarkterlebnis oder beim Kennenlernen von meinen südafrikanischen Gastgroßeltern.

Doch abgesehen von dem kulturellen Unterschied, dass die Menschen, denen ich hier begegnet bin, wesentlich aufgeschlossener und herzlicher gegenüber Fremden sind, als ich es aus Deutschland gewohnt war, hatte ich kaum das Gefühl, in einem ganz anderen Kulturraum zu sein. Ich fühlte mich nicht fremd, ganz im Gegenteil – bereits in meinen ersten zwei Wochen hatten Alva und ich hier schon Menschen gefunden, die die deutschen Lieder „Cordula Grün“ und „Ohne mein Team“ kannten und mitsingen konnten. Und obwohl es natürlich schön war, so „barrierelos“ Freundschaften zu knüpfen und einen so viel leichteren Start als erwartet zu haben, hat es mich manchmal auch irritiert und zum Nachdenken gebracht. Und es hat ein paar Wochen Zeit, ein paar Gespräche mit Locals und auch mit anderen Gästen und ein paar Busfahrten mit den Milestones-Kindern gebraucht, bis ich verstanden habe wieso.

 

Seit gut vier Wochen lebe ich nun in George in Südafrika und helfe bei der NGO „Bethesda“ als Freiwillige mit. Die Einrichtung besteht im wesentlichen aus einer Krankenstation bzw. einem Hospiz, einem Kinderheim und einem Kindergarten für Kinder mit Förder- oder Pflegebedarf. Vormittags arbeite ich abwechselnd mit meiner Mitfreiwilligen Alva im Kindergarten und helfe dabei, die Kinder zu beaufsichtigen, zu unterrichten und mit ihnen zu spielen. Hier hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass sich die Offenheit und Aufgeschlossenheit in der Kultur schon in den Kindern widerspiegelt; von ihnen wurde ich direkt sehr herzlich und stürmisch empfangen und eingebunden. Und obwohl ich mit meinem Afrikaans manchmal immernoch zu kämpfen habe und besonders am Anfang fast nichts verstanden habe, hat die Verständigung mit den Kindern relativ schnell funktioniert, sobald ich wusste, was „Tannie kom stoot my“ („Tante, schubs mich an“) bedeutet.

Nachdem die Kinder mittags dann ins Hospiz, ins Kinderheim oder zurück nach Hause gebracht worden sind und ich mein Mittagessen gegessen habe, geht es für mich in der Regel weiter ins Kinderheim. Dort wird immer viel rumgerannt und Fußball, Basketball oder Fangen gespielt, und weil die Kinder fast alle schon aus dem Kindergartenalter raus sind, ist das oft auch richtig anstrengend.

Neben dem Kinderheim und dem Kindergarten helfe ich auch immer wieder bei kleineren Aufgaben im Hospiz, wie bei der Besorgung von medizinischen Pflegeartikeln oder dem Füttern der Kinder auf der Krankenstation mit.

Und obwohl mir die Arbeit mit den Kindern vormittags und nachmittags viel Spaß macht, finde ich die Busfahrt durch Thembalethu und Parkdene während meiner Mittagspause meistens am spannendsten.

Auf dieser anderthalb-stündigen Busfahrt werden die Kinder des Milestones-Kindergartens zurück nach Hause gefahren. Die meisten von ihnen kommen aus den Stadtvierteln Parkdene und Thembalethu, den ärmsten Teilen der Stadt.

Die täglichen Busfahrten sind Alvas und meine einzige Möglichkeit, den Township Thembalethu von innen zu sehen. Denn wegen der Armut und der damit verbundenen hohen Kriminalitätsrate in den Townships der Großstädte ist es eine der vielen Sicherheitsregeln für uns, die Townships weder alleine, noch in Begleitung von anderen zu betreten. Und das ist keine übervorsichtige Regel, an die sich eigentlich nur die deutschen weltwärts-Freiwilligen halten – in meiner kurzen Zeit hier habe ich schon mehrere Erwachsene aus George getroffen, die Thembalethu noch nie von innen gesehen haben. Und das, obwohl knapp ein Viertel der Stadtbewohner dort lebt.

Die Fahrten durch Parkdene und Thembalethu regen mich jedes Mal zum Nachdenken an:

Auf der einen Seite kann ich so viel Schönes in der Lebendigkeit und Gemeinschaft sehen, in der die Menschen zusammen leben und so viel Kreativität in der Art, wie sie wohne. So freue ich mich beispielsweise bei jeder Busfahrt über die mit bunten Altglasscherben verzierte Mauer eines Wohnhauses und über das türkis-rotfarbene Haus, das eine Ananas imitieren soll. Es wirkt so, als würde jeder versuchen, mit bunten Farben und originellen Ideen zu der Vielfalt des Viertels beizutragen.

Die farbenfrohen Häuser, die Musik, die überall läuft und die Menschen, die einen im Vorbeifahren fast immer grüßen und anlächeln tragen alle dazu bei, dass es sich anfühlt wie ein so positiver und inspirierender Einblick in eine total offene und lebendige Kultur.

Auf der anderen Seite weiß ich, dass es so viel gibt, was ich nicht sehe. Alleine die Tatsache, dass ich in Thembalethu aus Sicherheitsgründen nicht auf die Straße gehen darf, zeigt, wie sehr hier nicht nur Armut das Leben vieler Menschen prägt, sondern auch der extreme Kontrast zwischen Arm und Reich.

Südafrika liegt nach aktuellen Schätzungen an der Spitze der Länder mit der größten Einkommens- bzw. Vermögensungleichheit und je länger ich hier bin, desto bemerkbarer wird diese für mich. Ich sehe es in den großen, freistehenden Häusern mit Pools, die sich keine zweihundert Meter von dem Township entfernt befinden. Und an den hohen Gates mit Stacheldraht, die hier fast jedes Haus umzäunen.

Im Umgang mit der Konfrontation mit Armut wurden wir in Aachen viel geschult. Was mich im Moment aber viel mehr beschäftigt als die Armut selbst ist dieses extreme Nebeneinander von Armut und Wohlstand. Mir ist aufgefallen, dass ich es fast als „schockierender“ empfinde, von Parkdene aus auf dem Rückweg an den Villen vorbeizufahren, als die Armut selbst zu sehen. Das soll nicht heißen, dass ich kein Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Reicheren habe oder über die Gesellschaft hier urteilen will bzw. kann. Trotzdem bringen der extreme Kontrast der Lebensrealitäten und diese Nähe und gleichzeitige Distanz zwischen benachbarten Vierteln für mich nochmal eine neue Dimension ins Thema Armut.

Und auf einer der vielen Busfahrten mit den Milestones-Kindern hat sich das alles auch ein Stück weit mit meiner Erfahrung in Bezug auf den Kulturschock zusammengefügt.

Erst rückblickend habe ich dann besser verstanden, dass es hier, anders als erwartet, besonders bei Jugendlichen einen Kulturraum gibt, der ähnlich zu zuhause ist. Denn in den reicheren Vierteln, z.B. in einer Gated Neighbourhood, erinnert mich vieles an Europa: die Häuser, die Einkaufsläden, die Popkultur, der Lebensstil. Hier kann man sich auch noch nachts frei auf der Straße bewegen (was in allen anderen Wohnvierteln der Stadt undenkbar ist). Durch die starke westliche Prägung und die relativ klare geografische Trennung der Gesellschaftsschichten gibt es also Orte und Gruppen, in denen ich mit den kulturellen und vor allem sozialen Unterschieden zu Deutschland kaum konfrontiert bin. Und in den letzten vier Wochen seit meiner Ankunft habe ich mich, teils aus Gewohnheit und teils aus Sicherheitsgründen, in meiner Freizeit fast ausschließlich in solchen Gruppen bewegt. Und obwohl es wie gesagt schön war, nicht total ins kalte Wasser geworfen worden zu sein und keinen typischen Kulturschock erlebt zu haben (und auch viele nette Menschen kennengelernt zu haben !), möchte ich im kommenden Monat versuchen, das ein bisschen zu ändern, soweit es die Sicherheitsregeln zulassen. Außerdem nehme ich mir vor, die Möglichkeiten in meiner Einsatzstelle, in einem sicheren Rahmen auch andere Teile der Kultur Südafrikas kennenzulernen, noch besser zu nutzen und aktiver auf Menschen zuzugehen!

Ich bin gespannt, wie ich in einem Monat auf das Thema blicke und hoffe, dass ich euch dann von neuen Erfahrungen und Erkenntnissen dazu berichten kann 🙂