Abschied und Neuanfang
Die zweite Hälfte meines Freiwilligenjahres startete eigentlich genauso wie die erste – mit einer neuen Einsatzstelle, neuen Menschen und vor allem einem neuen Land. Aufgrund von organisationsinternen Umstrukturierungen bei Republicanas Populares in Medellín, Kolumbien, hätte sich die Fortführung des Freiwilligendienstes schwierig gestaltet, wohingegen Tierra Nueva in Quito, Ecuador, eine bisher unbesetzte Einsatzstelle bereits in Anfrage gestellt hatte. Nach einem Hin und Her stand der Tausch also irgendwann sicher fest, und es hieß zum allerersten Mal Abschied nehmen. Die Realisation dieses Abschieds muss sich die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwird, allerdings mit dem bevorstehenden Neuanfang teilen. Mein letzter kleiner Spaziergang durch genau die Straßen, in denen ich viel Zeit verbracht habe, fühlt sich surreal an. Der Abschied von Aleja fällt mir schwer, eine grobe Idee davon, was ich vermissen werde, habe ich. Ich bin mir aber sicher, dass mir viele Dinge erst auffallen, wenn sie mir dann wirklich fehlen. Am dritten Februar schaue ich meinen letzten Sonnenaufgang in Kolumbien vom Balkon in Alejas Wohnung an. Wenn ich allerdings mit diesen Hintergedanken an den Abschied in einem halben Jahr denke, bekomme ich wirklich Gänsehaut und schiebe den Gedanken weg.
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Und auch wenn dieser Neuanfang eigentlich alles ändert und sich in Ungewissheit hüllt, fühlte es sich doch ganz anders an als noch vor einem halben Jahr im Flugzeug nach Medellín. Nämlich deutlich entspannter, aber vielleicht auch ein wenig realistischer.
Die Zeit in Medellín durfte ich noch einmal beim bereits erwähnten Zwischenseminar aufarbeiten. Diese Woche trennte in meinem Fall genau die beiden Länder, da der Wechsel beinahe direkt nach einem letzten „Nachhausekommen“ in Alejas Wohnung stattfand.
In der Woche, die ich mit acht anderen Freiwilligen verbringen durfte, setzten wir uns intensiv mit den vergangenen Schwierigkeiten, aber auch mit den riesigen Chancen und Privilegien aus dem letzten halben Jahr auseinander. Schutzmechanismen, Ausblenden, interkulturelle Kommunikation und Missverständnisse, Umgang mit Kindern und Jugendlichen und vor allem ein Ausblick auf das nächste halbe Jahr spielten eine zentrale Rolle in den Thematiken. Aber auch das Konzept Freiwilligendienst, die Wahrnehmung darauf und der Umgang mit selbigem wurden thematisiert. Besonders wertvoll war natürlich auch, die Erfahrungen der anderen zu hören, aus ihrem Umgang mit den Situationen etwas mitzunehmen und sich gegenseitig manches vielleicht auch ein kleines bisschen einfacher zu machen. Durch die kleine Gruppe hatten wir das Glück eines offenen, ausgeglichenen und wichtigen Austauschs, den ich sehr zu schätzen weiß. Ich kann zwar nur für mich persönlich sprechen, glaube aber, dass es den anderen Teilnehmenden des Zwischenseminars auch so geht, denn ich bin nun auf vieles noch einmal neu sensibilisiert, habe das Gefühl, einzelne Punkte besser zu verstehen, und habe auch noch etwas mehr Motivation mitgenommen. Sowohl der Zeitpunkt als auch die Umsetzung hätten nicht besser sein können, und ich denke jetzt schon gerne an die Woche zurück.
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Nun aber zu Tierra Nueva. Die Fundación setzt sich vorrangig für den Kindes- und Jugendschutz ein. Die in Quito ansässige Organisation betreibt eine Einrichtung für Jugendliche mit geistiger Behinderung im Süden der Stadt sowie eine Tagesbetreuung für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Amaguaña, einem Vorort der Hauptstadt.
Während eine andere Freiwillige von Sternsinger, Alice, sich schon seit einem halben Jahr in Erstgenannter befindet, trete ich nun jeden Morgen meine Busfahrt nach Amaguaña an. Diese beiden Einrichtungen sind allerdings nur ein Bruchteil der Arbeit von Tierra Nueva. Über das Krankenhaus „Padre Carollo“ und verschiedene andere medizinische und psychologische Einrichtungen fehlt mir bisher noch der genaue Überblick. Für die, die das genauer interessiert, hier ein Link zur Webpage von Tierra Nueva: https://www.fundaciontierranueva.org.ec
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Nun aber von Beginn an. Am Flughafen in Quito wurden mein Koffer und ich von meiner neuen Mentorin Elena sowie Vicky und Jorge, meiner neuen Gastfamilie, abgeholt. Bei der ersten Fahrt durch Quito fällt mir vor allem eins auf – die Wahlplakate und Banner, die die gesamte Stadt schmücken. Anfang Februar fanden hier nämlich die Präsidentschaftswahlen statt. Da diese allerdings ohne klares Ergebnis ausfielen, werden die Plakate noch bis April – zur Stichwahl – die Wände, Laternen und Scheiben zieren. Von Vicky und Jorge, beide circa Mitte 60, wurde ich herzlich aufgenommen. Nicht selten werde ich mit „Mija“ (Mi hija – meine Tochter) angesprochen und auch genauso vorgestellt, wobei dann im nächsten Satz doch noch der Zusatz „für die nächsten sechs Monate“ nachgeschoben wird. Dieses familiäre Zusammenleben und Aufnehmen kannte ich aus Medellín noch überhaupt nicht – für mich also wieder einmal eine ganz neue Erfahrung.
Ich wohne nun in „La Santiago“, einem Viertel eher im Süden der Stadt. Quito, die höchstgelegene Hauptstadt der Welt, liegt zwischen den Ausläufern der Anden. Dadurch ergibt sich ein langgezogenes Stadtbild, bei dem sich Lebensstandard und Reichtum ungleich zwischen Norden und Süden aufteilen. Während man im Norden Hochhaus an Hochhaus betrachten kann, bietet sich im Süden ein ganz anderes Bild. Diesen stark spürbaren Unterschied zwischen Arm und Reich, den man in wahrscheinlich allen südamerikanischen Großstädten beobachten kann, kannte ich aus Medellín schon. Das aber wirklich so räumlich getrennt zu sehen, löst komische und unwohle Gefühle aus.
Nun aber zu meinem Alltag. Um der rennenden Zeit entgegenzuwirken, geht es sofort los. Mein zweiter Tag in der Hauptstadt Ecuadors bringt auch meinen ersten Tag in der Einsatzstelle mit sich. Um Viertel nach sechs verlasse ich das Haus und mache mich im Bus auf zur nächsten Bushaltestelle nach Amaguaña. Die klamme Kälte Quitos wird durch den Sonnenaufgang wettgemacht.
Im Zentrum „El Niño“ bin ich nun zur Unterstützung in der „Aula Margarita“. Insgesamt gibt es vier Aulen, in welche die Kinder und Jugendlichen anhand von Alter und Betreuungsbedürfnis eingeteilt werden.
In Margarita befinden sich die kleinsten Kinder. Die sieben Jungs und das eine Mädchen sind zwischen 8 und 12 Jahren alt. Hier bestehen meine Aufgaben in der Unterstützung der Erzieherin Evelyn oder auch – hat sich nun zumindest so etabliert – im Aufbauen und Reparieren verschiedener Spielgegenstände. Während ich dann also so dasitze und zum Beispiel einen Stofftunnel zum Durchkrabbeln mit Nadel und Faden flicke, erzählt mir Matti, eines der Kinder, von seinem Wochenende und schaut mich mit großen Rehaugen an. „Pause“ mache ich dann zum Beispiel, um einzelne Kinder zur Wassergymnastik, Physiotherapie oder auf die Toilette zu begleiten.
Sollte Evelyn meine Unterstützung nicht brauchen und alle handwerklichen Reparaturaufgaben soweit erledigt sein, gibt es noch genug Aufgaben. Ob Aufräumen, Putzen, Gestaltung von Geburtstagskarten und noch vieles mehr – es gibt immer etwas zu tun.
Im Moment werden fleißig die drei Primärfarben geübt, es wird mit farbigen Lichtern, einem Bällebad, oder mit Acrylfarbe und Pinsel gearbeitet. Vor allem notwendig ist das Schenken der uneingeschränkten Aufmerksamkeit. So schreibt einer der Jungen seinen Namen, auf Nachfrage und mit beobachtenden Blick, beinahe schon komplett selbstständig, würde allerdings von sich aus jegliche Bestrebungen danach unterlassen. Mit Evelyn verstehe ich mich wirklich gut und beinahe sicher zu wissen, dass ich für sie wirklich eine Hilfe darstelle, ist eine unfassbar schöne Erfahrung.
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Wenn ich im Bus wieder nach Hause sitze, ist Erschöpfung oft keine Seltenheit, wobei mir hier die Höhe zusätzlich noch zu schaffen macht. Von Montag bis Freitag sehen meine Tage nun so aus. Für die Kinder ist das Zentrum wie ein Schulbesuch mit Stundenplan und Mittagspause – nur eben mit etwas anderen Themen und einer intensiveren Betreuung. Und auch wenn das Wochenende dann nötig und gelegen kommt, merke ich spätestens am Montag, in welch kurzer Zeit ich die Kinder schon ins Herz geschlossen habe. Da fällt sogar das Aufstehen in der – wirklich nicht angenehmen – Kälte beinahe leicht.
Ich bin unfassbar dankbar für die Möglichkeit des Wechsels, für die herzliche Aufnahme durch Tierra Nueva und auch in meiner Gastfamilie. Und auch wenn sich Quito noch nicht von seiner besten Seite präsentiert, die vergangenen und bevorstehenden Wahlen und politischen Veränderungen die Stimmung merklich anspannen, ich nicht genau weiß, wann meine Füße und Hände beim Einschlafen das letzte Mal so richtig warm waren und es jeden Tag mindestens drei Stunden in Strömen regnet, bin ich so froh, hier zu sein.
Und als ich diesen Satz schreibe, fährt der Bus in den Hof von „El Niño“ ein, und ich freunde mich immer mehr mit Quito an und bin mir sehr sicher, dass ich bald nicht nur die Fundación und die Menschen tief in mein Herz geschlossen habe.
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